
Gut gelaunt leiteten am Montag Freunde der Ukraine in sozialen Netzwerken weltweit ein Handy-Video weiter. Es weist hin auf den Stil des Widerstands gegen die russischen Invasionstruppen. Manche sprechen von einer „ikonischen Aufnahme“, andere prusten einfach nur vor Lachen: „Das ist so ukrainisch, ukrainischer geht‘s nicht mehr.“
Das Video, 7 Sekunden lang, zeigt einen Mann auf einem Traktor, der mit einem von Putins Truppen zurückgelassenen russischen Schützenpanzer auf ganz eigene Art fertig wird: Er schleppt das Ding weg – bevor die Russen sich das Kettenfahrzeug womöglich noch holen und es Schaden anrichten kann.
No expert, but the invasion doesn’t seem to be going particularly well.
— Johnny Mercer (@JohnnyMercerUK) February 27, 2022
Ukrainian tractor steals Russian APC today pic.twitter.com/exutLiJc5v
Er sei kein Experte, höhnte der konservative britische Parlamentsabgeordnete Johnny Mercer angesichts des kuriosen Geschehen, aber der Vormarsch der Russen laufe offensichtlich nicht so ganz rund. Die seltsamen Szenen, von manchen Nutzern nachträglich mit Dick-und-Doof-Musik unterlegt, schafften es bis auf die Startseite vom „Indian Express“ in Neu Delhi.
Ein Blitzkrieg geht anders
Ein Einzelfall? Nicht ganz. Zuvor hatte bereits ein anderer Bauer mit dem Traktor einen russischen Raketenwerfer weggezogen. Verblüffend waren auch die Montag verbreiteten Videos aus dem ukrainischen Dorf Senkovka. Dort hatten die Bewohner, wie unter anderem die türkische Nachrichtenplattform ABC berichtete, die russischen Panzer zumindest zeitweise allein dadurch aufgehalten, dass sie sich ihnen als Menschenmenge auf der Straße in den Weg stellten.
Ukrayna/Rusya sınırı yakınındaki Senkovka'da siviller Rus askeri konvoyunu elleriyle durdurmaya çalışıyor:
— ABC Gazetesi (@abcgazete) February 28, 2022
Ein Blitzkrieg, klarer Fall, geht anders. Anfangs hatten westliche Militärexperten erwartet, Putin werde eine Art Lehrvorführung zeigen: Einmarsch und Umsturz in 48 Stunden, alles durch kombinierten Einsatz von Armee, Luftwaffe und Marine.
Einfallslos und schwerfällig
Ein wie auch immer geartetes eindrucksvolles Zusammenspiel der russischen Teilstreitkräfte blieb bislang aus. Die Invasion erschöpfte sich in den ersten fünf Kriegstagen im rumpelnden Heranschaffen schweren technischen Geräts. „Unimaginative and clumsy“, wirke dies alles – einfallslos und schwerfällig –, schrieben US-Militärexperten.
Schlimmer noch: Oft zeigten Putins Truppen rätselhafte Schwächen.
- Russische Panzer blieben zuweilen schlicht wegen Benzinmangels liegen – ukrainische Kämpfer hatten, statt sich direkt mit den durch die Dörfer rasselnden stählernen Kolossen anzulegen, die nachfolgenden Versorgungsfahrzeuge unter Feuer genommen.
- Nach Darstellung ukrainischer Kämpfer schossen hier und dort russische Soldaten Leuchtraketen ab, um ihren Kameraden ihre Position im Gelände mitzuteilen – ein Hinweis auf den Ausfall von Kommunikationstechnik. Dies könnte an technischen Mängeln der Ausrüstung liegen, aber auch daran, dass feindliche Kräfte möglicherweise aktuell die russischen Prozesse behindern: durch Störsender oder Schadsoftware. Details wie dieses wird man nie erfahren.
- Rätselhaft blieb auch, warum sich am Donnerstag nahe einer Brücke bei Kiew russische Panzer und Lastwagen ohne eigene Luftaufklärung zu einer – leicht angreifbaren – Kolonne formierten. Ukrainische Soldaten, die ihrerseits wohl schlecht auszumachen waren, feuerten Panzerabwehrwaffen auf den Konvoi ab. Gleich danach führte im US-Fernsehsender CNN der Reporter Matthew Chance seinem Publikum die noch rauchenden Trümmer vor.
Ukraine wird besser mit Daten versorgt
Die ukrainische Armee ist schlechter bewaffnet als die russische, wird jedoch besser mit „signals intelligence“ (SIGINT) versorgt. Damit bezeichnet man in Nato-Kreisen Datensammlungen und Erkenntnisse, die auf der Auswertung aktueller elektronischer Signale aller Art beruhen.
Mit wem etwa die Awacs-Crews, die derzeit über Polen kreisen, am Ende ihre Daten teilen, weiß niemand. Ein Teil wird wohl in Kiew landen. Dass der britische Geheimdienst dieser Tage aus einem Fenster in seinem Hauptsitz in London eine kleine blau-gelbe Flagge flattern ließ, deutet ebenfalls auf eine wohl mehr als nur ideelle Unterstützung hin.
MI6 flying the Ukrainian flag. Wow. pic.twitter.com/0GvgaLJF5h
— Hannah Al-Othman (@HannahAlOthman) February 25, 2022
Auch private Datensammler im Westen helfen der Ukraine. So schaltete der Alphabet-Konzern auf Bitten Kiews bis auf weiteres diverse Funktionen auf Google Maps ab: Die über eine Vielzahl von Mobiltelefonen generierte Information, dass gerade an einem bestimmten Ort, etwa in einem Restaurant oder Einkaufszentrum, „mehr Menschen als um diese Zeit üblich“ versammelt seien, könne, so fürchtet Kiew, den Russen auch Hinweise auf Kellerräume geben, in die sich besonders viele Ukrainer in den bevorstehenden Bombennächten flüchten.
Den Ukrainern hilft auch, dass ihre Kämpfer eine hohe Moral haben und sich jeder von ihnen auch eigenständig an den Realitäten zu orientieren vermag. Den Russen indessen fällt auf den Fuß, dass vielen von ihnen, besonders offenbar den Jüngsten, bis zuletzt verheimlicht wurde, dass es nicht um eine Übung geht, sondern um einen Krieg. Dies soll in Teilen der Truppe kolossale Verunsicherung ausgelöst haben.
Und jetzt? Droht mehr Brutalität
Dennoch warnen westliche Experten die Nato-Staaten davor, sich zu früh zu freuen. „Der Großteil der russischen Truppen hat in diesen Kampf noch überhaupt nicht eingegriffen“, betont Michael Kofman, Russland-Experte der Washingtoner Denkfabrik CNA.
Ganz ähnlich äußerte sich am Montag Putins Diktatorenfreund aus Minsk, der belarussische Herrscher Alexander Lukaschenko: „Wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen.“ Lukaschenko hat sich entschlossen, an Putins Krieg teilzunehmen – dies verlängert die Liste der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die ihm zur Last gelegt wurden.
Beide Diktatoren sind offenbar entschlossen, jetzt mit der Faust auf den Tisch zu schlagen – und im Zweifel lieber zu inhumanen Flächenbombardements in Kiew und Charkiw überzugehen als länger abzuwarten.
In Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, war noch am Sonntag ein Vormarsch der Russen gestoppt worden. In einem klassischen Häuserkampf behielten die Ukrainer die Oberhand, die Russen zogen es am Ende vor, sich gruppenweise in Gefangenschaft zu begeben statt sich aus kurzer Distanz erschießen zu lassen. Am Montag aber kamen neue russische Einheiten – und sorgten nun für eine Mischung aus Psychokrieg und Flächenbombardement.
Possible use of cluster munitions in Kharkiv. There was a video posted earlier that showed a Smerch MLRS rocket booster landing in Kharkiv, which can carry cluster munitions. https://t.co/fitcfyuNDr pic.twitter.com/Xd9XubbhuL
— Rob Lee (@RALee85) February 28, 2022
Putins Armee fuhr in Charkiw Artillerieraketensysteme auf, deren Geschosse in so engem Takt auch auf Wohngebiete niedergingen, dass die Wirkung einem Bombenteppich gleichkam. Möglicherweise kam auch sogenannte Streumunition zum Einsatz. Aus Grosny (Tschetschenien) und Aleppo (Syrien) wissen Putins Generäle, dass unter diesen Bedingungen auch eine anfangs mutige Bevölkerung irgendwann entnervt aufgibt.
Angst vor Putins „Höllensonne“
Auch rund um Kiew zogen die Russen am Montagabend den Ring enger. Nach unbestätigten Berichten britischer Zeitungen sind allein 400 hoch bezahlte Söldner in der Stadt unterwegs mit dem einzigen Ziel, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi zu töten. Am Himmel über Stadt waren am Montag Kampfbomber zu sehen.
Die größte Bedrohung für die Bevölkerung Kiews liegt im Einsatz von „Putins Höllensonne“, dem russischen System Tos 1, einem Mehrfachraketenwerfer, der auf einen Panzer montiert ist. Mit einer ersten Detonation wird eine brennbare Aerosolwolke erzeugt, die dann mit einer nachfolgenden Zündung zur Explosion gebracht wird. Im Zentrum der betroffenen Zone ist die Hitze so enorm, dass Menschen verdampfen, ringsum schiebt eine Druckwelle alles weg, was sich über dem Erdboden befinde. Kurz danach entsteht ein massiver Unterdruck, der die Lungen zerstört, so ersticken sogar Menschen, die bereits in einen Keller geflohen sind.
Tos 1 gilt als die am meisten gefürchtete nichtnukleare Waffe der Welt. In Syrien und Tschetschenien hat Putin bereits ihren Einsatz befohlen, in beiden Fällen sprachen Beobachter von Kriegsverbrechen – was Putin aber völlig unbeeindruckt ließ. Er ließ die Waffe dieser Tage bereits in Richtung der ukrainischen Großstädte rollen – nicht etwa getarnt, sondern offen: als Ausrufezeichen hinter seinem Machtanspruch.