
Wer Zeuge in einem Ermittlungsverfahren war, eine Speichelprobe innerhalb eines Flächentests abgegeben oder einen Gerichtssaal unschuldig verlassen hat – wer überhaupt irgendwann mal mit der Polizei in Berührung gekommen ist, muss befürchten, dass seine Daten weiterhin auf Polizei-Servern abrufbar sind. Unrechtmäßig und mit nicht absehbaren Folgen für Betroffene. Im Rechtsauschuss des Landes NRW müssen die Verantwortlichen nun Rede und Antwort stehen.
Justiz stellt jährlich 320.000 Verfahren ein
Eine Untersuchung durch die NRW-Datenschutzbeauftragte Bettina Gayk ergab bereits 2021, dass rund ein Viertel der Daten nicht gelöscht wird. Hochgerechnet auf 320.000 Verfahren, die jährlich in NRW eingestellt werden, wären das rund 80.000 Datensätze. Und das Jahr für Jahr.
Das Problem liegt bei Polizei und Staatsanwaltschaften. Das Polizeigesetz NRW verpflichtet die Polizei, solche Daten zu löschen. Damit sie das kann, sollen Staatsanwaltschaften der Polizei melden, wie Verfahren ausgegangen sind. Das tun sie aber nicht ausreichend. Und die Polizeibehörden selbst löschen die wenigen gemeldeten Daten nicht oder nur unzureichend, sodass Betroffene weiterhin suchbar bleiben.

Polizei und Staatsanwaltschaft fehlen Personal, um die Datenqualität aktuell zu halten. Und manchen Behörden fehlt auch der Wille, das Problem anzugehen. Eine Staatsanwaltschaft verweigerte Gayk bei ihren Untersuchungen die Herausgabe von Akten. Und um wie viele Fälle von Nichtlöschung es sich tatsächlich handelt, will das Justizministerium nicht überprüfen.
Der Aufwand sei unverhältnismäßig hoch, sagt NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne). Eine digitale Auswertung – dazu sei die genutzte Software nicht in der Lage. Über die vielen Baustellen der Digitalisierung in der Justiz hatte unsere Redaktion erst kürzlich berichtet.

FDP-Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des Rechtsausschusses Dr. Werner Pfeil will Transparenz in die Angelegenheit bringen. Weil ihm die Antworten auf seine Anfrage im Justizministerium nicht ausreichen, hat er für August eine Anhörung anberaumt.
Im Vorfeld wurden dafür mehrere Gutachten erstellt, die dieser Redaktion vorliegen. Alle Gutachter kommen zu dem Schluss, dass die Vorgehensweisen von Polizei und Staatsanwaltschaften unrechtmäßig sind und gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht verstoßen. Wörtlich heißt es in dem Gutachten der Ludwig-Maximilians-Universität München: „Eine unzulässige Speicherung personenbezogener Daten nach einem Freispruch oder einer Verfahrenseinstellung stellt einen intensiven Grundrechtseingriff dar.“

Für den Kriminologen Prof. Dr. Sebastian Golla von der Ruhr-Universität Bochum sind diese Erkenntnisse nicht neu. „Das Problem ist in Justizkreisen seit Jahren bekannt, bislang von der Öffentlichkeit aber so gut wie nicht wahr genommen worden.“ Er freue sich über die Entwicklung im NRW-Rechtsausschuss. Denn unschuldige Menschen könnten durch die unrechtmäßig gespeicherten Daten schneller unter Tatverdacht geraten.
Wozu das führen kann, beschreibt Bettina Gayk wie folgt: Betroffene seien dem Risiko ausgesetzt, dass sie bei Polizeimaßnahmen kritischer betrachtet werden als Personen, zu denen die Polizei keine Daten gespeichert hat. Sie könnten bei Verkehrskontrollen das Verhalten von Polizisten nachteilig beeinflussen. „Denkbar wäre auch, dass die Polizei eine Person, die Zeuge einer Straftat ist, alleine deswegen auch als Täter in Betracht zieht“, heißt es in einer Stellungnahme der Datenschutzbeauftragten an Landtagspräsident André Kuper (CDU).
Polizei speichert Bagatellfälle über Jahre
2016 hatten Datenschützer herausgefunden, dass Kriminalämter des Bundes und der Länder jahrelang rechtswidrig personenbezogene Daten in der Falldatei Rauschgift gespeichert hatten. Sie fanden Einträge zu Bagatellfällen wie dem Konsum eines Joints. Auch die Daten des Gastgebers einer Privatparty wurden gespeichert, auf dessen Toilette Gäste Drogen konsumiert hatten. Ein Apotheker wurde offenbar registriert, nachdem ein Kunde rezeptpflichtige Medikamente gestohlen hatte.
In Hamburg wurde dem NDR-Journalisten Sebastian Friedrich auf Grundlage rechtswidriger Daten die Akkreditierung für den G20-Gipfel entzogen. Friedrich recherchiert schwerpunktmäßig zur Entwicklung der politischen Linken und beschäftigt sich außerdem mit dem Aufstieg der extremen Rechten in Deutschland.
Weil er bei seiner Arbeit in Kontakt mit Menschen aus diesen Bereichen kommt, stufte ihn das Bundespresseamt aufgrund von vagen Informationen des Berliner Verfassungsschutzes als potenziellen Gefährder ein. Von den Gründen erfuhr der Journalist nur, weil er sich juristisch wehrte.
Der junge Syrer Amad starb durch einen Datenfehler
Ein besonders tragischer Fall von polizeilicher Datenarbeit ereignete sich 2018. Damals brannte es in Zelle 143 der JVA Kleve. Darin eingeschlossen war der Syrer Amad A., der wenige Tage später seinen Verbrennungen und Vergiftungen erlag. Der junge Mann war zwei Monate zuvor auf Grundlage eines Haftbefehls von der Polizei in Geldern festgenommen worden. Gesucht wurde aber ein ganz anderer Mann, nämlich Amedy G., ein Malier.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärte den Fehler damals mit einem so genannten Kreuztreffer im polizeilichen Informationssystem ViVA. „Ein Kreuztreffer wird angezeigt, wenn Personen gemeinsame persönliche Merkmale aufweisen. Sowohl Amad A. als auch Amedy G. war der Alias „Amed Amed“ zugeordnet. Daher könnte das System bei der Suche nach Amad A. den Datensatz von Amedy G. angezeigt haben, hieß es damals.

