Staatsrechtler Oebbbecke zur Neutralitätspflicht vor Wahlen „Für Bürgermeister sehr heikel“

Damit beim Wahlgang am 14. September alles glattgeht, ist das Neutralitätsgebot einzuhalten, empfiehlt Staatsrechtler Prof. Dr. Janbernd Oebbecke allen Kommunen. Anlass für die Fragen an ihn:  ein Anwohnergespräch in Lünen.
Damit beim Wahlgang am 14. September alles glattgeht, ist das Neutralitätsgebot einzuhalten, empfiehlt Staatsrechtler Prof. Dr. Janbernd Oebbecke allen Kommunen. Anlass für die Fragen an ihn: ein Anwohnergespräch in Lünen. © Universität Münster/vom Hofe
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Ein Streitfall um eine Straßenbaustelle in Lünen-Süd sorgte in Lünen für Diskussionen über die Grenzen kommunaler Zurückhaltung vor Wahlen. Ein Gespräch mit dem Verfassungsrechtler Janbernd Oebbecke ordnet ein.

Baustellenlärm, Dreck, Absperrungen – für viele Bürgerinnen und Bürger sind städtische Infrastrukturprojekte mit Ärger verbunden. Wenn dann auch noch auf Nachfragen aus der Bürgerschaft keine Antworten folgen, wächst der Frust. Genau das ist in Lünen passiert: Anwohner einer Baustelle wollten sich über den Fortgang der Arbeiten informieren. Ihr Ratsvertreter leitete die Bitte an die Stadt weiter – doch dort lehnte man einen Ortstermin mit Verweis auf die Neutralitätspflicht ab. Der Grund: Am 14. September ist Kommunalwahl – in nicht einmal vier Monaten.

Was bedeutet Neutralitätspflicht konkret? Janbernd Oebbecke, emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Universität Münster, erklärt es im Gespräch mit der Redaktion.

Gültigkeit der Wahl in Gefahr

„Die Verwaltung muss sich in der Vorwahlzeit politisch neutral verhalten – das heißt insbesondere, sie darf nicht den Eindruck erwecken, parteilich zu handeln“, so Oebbecke mit Verweis auf das Demokratieprinzip und das Recht der Parteien auf Chancengleichheit. Dies betreffe nicht nur Auftritte auf Parteiveranstaltungen, sondern auch scheinbar neutrale Anlässe, sofern sie im politischen Kontext stehen – also auch bei der Einladung zu einer Anwohnerversammlung, die ein Ratsmitglied organisiert hat.

Ziel der Neutralitätsvorgaben sei es, eine faire und unbeeinflusste Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. „Deshalb ist es rechtlich geboten, dass Verwaltungen sich im Vorfeld von Wahlen deutlich zurückhalten“, sagt Oebbecke. Das stoße nicht nur in Lünen mitunter auf Verwunderung oder Kritik.

„Lünen legt es nicht zu streng aus“

Lünen lege die Vorgaben nicht zu streng aus, findet der namhafte Jurist, der 2019 zu den 100 deutschen Staatsrechtlern gehörte, die eine Verkleinerung des Bundestages angestoßen hatten: ein Reformvorschlag, der inzwischen umgesetzt ist. Laut Oebbecke handhaben viele Kommunen diese Vorgaben ähnlich streng wie Lünen, auch auf Empfehlung der kommunalen Spitzenverbände: In den letzten Monaten vor der Wahl – der Zeitraum ist nicht fest vorgegeben – sollen Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nicht auf Veranstaltungen mit möglichem Wahlkampfbezug auftreten. Auch dann nicht, wenn diese unter dem Etikett von Bürgerinformationen laufen, sagt der Wissenschaftler aus Münster: „Wenn man rechtliche Risiken für die Gültigkeit der Wahl vermeiden will, muss man solche Aktivitäten konsequent unterlassen.“

Denn sobald Verwaltungsmitarbeitende auf Veranstaltungen auftreten, besteht die Gefahr, dass ihnen politische Einflussnahme unterstellt werden könne. Auch Einladungen durch Bürgerinitiativen oder parteinahe Organisationen seien in dieser Phase heikel. Darum sei es die beste Lösung, „es einfach sein zu lassen“.

AfD und die Vergabe öffentlicher Räume

Ein anderer kritischer Punkt im Zusammenhang mit der Neutralitätspflicht ist laut Oebbecke die Überlassung städtischer Räume für Wahlveranstaltungen. Hier gelte: Entweder alle Parteien dürfen sie nutzen – oder keine. „Viele Kommunen tun sich mit dieser Gleichbehandlung schwer, insbesondere bei umstrittenen Parteien“, erläutert der Jurist mit Blick auf die AfD. Die Konsequenz: Oft werde ganz darauf verzichtet, Räume zur Verfügung zu stellen. „So halten wir es auch mit den Räumen der Universität Münster“, ergänzt der 74-Jährige, der die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster lange als Dekan leitete und nach wie vor in Forschung und Lehre aktiv ist.

Amtsträger müssen vorsichtig sein

Besonders heikel ist die Situation für Amtsinhaber, die sich erneut zur Wahl stellen. Sie müssten ihre Rolle als Verwaltungschef strikt von ihrer Rolle als Kandidat trennen. Oebbekce warnt: „Wahlkampf mit amtlichen Ressourcen – vom Dienstwagen bis zu Unterstützung aus der Mitarbeiterschaft – ist tabu.“ Auch Veröffentlichungen in städtischen Publikationen dürfen nicht als Wahlwerbung genutzt werden. Bei Verstößen drohe „schlimmstenfalls die Wiederholung der Wahl“.

Wahlen mussten schon wiederholt werden

Dass der Fachbereichsleiter Mobilitätsplanung und Verkehrslenkung der Stadt Lünen sein Kommen zu einem von der SPD organisierten Anwohnergespräch an der Baustelle in Lünen-Süd abgesagt hat, ist aus Oebbeckes Sicht völlig richtig. Dass sich Bürgerinnen und Bürger über mangelnde Informationen ärgern, versteht er aber auch. Das Vertrauen in die Verwaltung würde deshalb aber niemand verlieren, meint er, eher im Gegenteil. „Wenn man erklärt, warum man sich jetzt zurückhält, kann das Verständnis fördern.“ Wenn es eine Kommune lockerer sehe mit der Neutralitätspflicht, riskiere sie mehr als nur Kritik: „Eine Anfechtung der Wahl.“

Das ist keine theoretische Gefahr: „Kommunalwahlen wurden in Deutschland bereits mehrfach wegen Verstoßes gegen die Neutralitätspflicht angefochten und in mehreren Fällen auch für ungültig erklärt“, so Oebbecke. Ein Beispiel, das Schlagzeilen machte: Der amtierende Bürgermeister der Gemeinde Seebad auf der Insel Hiddensee hatte vor der Wahl öffentlich erklärt, dass er die Kosten für den Linienbus, mit dem Wähler am Wahltag zum Wählen fahren, aus eigener Tasche bezahlen werde. Und in der sächsischen Kreisstadt Bischofswerda hatte der amtierende Oberbürgermeister öffentlich versprochen, im Falle seiner Wiederwahl für jede erhaltene Stimme einen Euro für die Vereine der Stadt zu spenden.

Wer in den Ratssaal im Rathaus Lünen einziehen wird, wird am 14. September entschieden. Bis dahin gilt es Risiken zu vermeiden.
Wer in den Ratssaal im Rathaus Lünen einziehen wird, wird am 14. September entschieden. Bis dahin gilt es Risiken zu vermeiden.© Stadt Lünen
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