
Lieber Herr Scholz,
Sie haben mir das Schreiben beigebracht, in der Klasse 1c der Grundschule am Heikenberg. Im Sommer 1983 habe ich zum ersten Mal zugeschaut, wie Sie Buchstaben an die Tafel geschrieben haben. Gestochen scharfe A’s waren das – in lateinischer Ausgangsschrift. Ich habe versucht, sie genauso toll nachzuschreiben. Doch Ihre A‘s waren immer die schönsten. Später war es eine besondere Herausforderung, das große H zu schreiben – und darauf zu achten, dass es sich vom großen X unterschied.
Aber ganz gleich, wie lange es dauerte – Sie waren immer sehr geduldig. Die Kinder aus den Parallelklassen sagten: „Ihr Armen, der Herr Scholz ist doch so streng.“ Doch wir aus der 1c wussten: Die Anderen hatten keine Ahnung. Na klar, Sie konnten auch sauer werden. „Ich erschieß` euch gleich mit heißem Käse“, haben Sie dann gerufen. Da wussten wir: Jetzt wird es ernst. Oder Sie haben uns in der Turnhalle ewig im Kreis laufen lassen, wenn wir vorher Mist gemacht hatten. Dabei haben Sie dann demonstrativ auf der Bank gesessen und Zeitung gelesen.
Der Rabe Abraxas
Meistens jedoch waren Sie gut gelaunt und lustig. Wenn wir artig oder in der sechsten Stunde einfach schon schlapp waren, haben Sie uns vorgelesen. Die kleine Hexe, der kleine Wassermann und das kleine Gespenst – diese Bücher verbinde ich heute noch mit Ihrer Stimme. In diesen Stunden gab es immer mindestens ein Kapitel, manchmal auch zwei oder drei. Dabei haben Sie gern das R gerollt – am schönsten klang es, wenn Sie mit rollendem R vom „Raben Abraxas“ sprachen. Sie haben mir also auch die Liebe zu Büchern weitergegeben. Die Klassiker von Otfried Preußler habe ich später meinen eigenen Kindern vorgelesen.
Mut gemacht haben Sie mir auch. Ohne Sie wäre ich an diesem Tag im Hallenbad Altlünen nicht vom Dreier gesprungen. Sie haben mir so lange gut zugeredet, bis ich den Sprung gewagt habe. Ich erinnere mich daran, dass ich den Jubel der ganzen Klasse noch unter Wasser gehört habe.
Liebe zur Natur
Doch was Ihnen am Wichtigsten war, habe ich jeden Tag neu erfahren: Ihre Liebe zur Natur. An der Wand in unserem Schulflur hing ein Bild mit dem Querschnitt eines Ameisenhaufens, den Sie uns immer wieder erklärt haben. Wir haben oft mit Ihnen am Fenster des Klassenzimmers gestanden und die Krähenkolonie in den Bäumen hinter der Schule beobachtet. Oder wir sind gemeinsam in den Wald gegangen und haben Blätter gesammelt, für Naturkunde oder den Kunstunterricht. Sie konnten alle Blätter und Bäume erklären.
Viele Jahre später, als ich schon freie Mitarbeiterin bei den Ruhr Nachrichten war, habe ich Sie als Vorsitzender des Arbeitskreises für Umwelt und Heimat auf Terminen getroffen. Dann haben Sie immer gestrahlt und allen Umstehenden gesagt: „Dem Mädel da habe ich das Schreiben beigebracht.“
Spuren
Lieber Herr Scholz, Sie haben mir noch viel mehr beigebracht. Die Orte, an denen Sie das getan haben, gibt es heute nicht mehr. Die Schule am Heikenberg wurde ebenso abgerissen wie die Turnhalle des Blau-Weiß Alstedde und das Hallenbad Altlünen. Und seit gestern weiß ich, dass ich Sie nie wieder treffen werde, wenn ich in Lünen bin.
In Ihrer Traueranzeige steht: „Deine Schritte sind verstummt, doch die Spuren Deines Lebens bleiben bestehen.“ Sie haben bei vielen Menschen Spuren hinterlassen – und nicht zuletzt haben Sie vielen Tieren und Pflanzen in meiner Heimatstadt einen Lebensraum geschenkt.
Ich bin sehr traurig. Und gleichzeitig so dankbar dafür, dass ich vor 40 Jahren bei Ihnen in der Klasse 1c gelandet bin.
Danke für alles.