Jungwähler im Kreis Unna über EU und Nationalismus „Konrad Adenauer würde einen Kollaps kriegen“

Sprachen im Studio über die Europawahl 2024 (v.l.): Tim Stohlmann, 1. Vorsitzender der JU im Kreis Unna und Alexander Höll, 1. Vorsitzender der Jusos im Kreis Unna mit Redakteur Marcus Land.
Sprachen im Studio über die Europawahl 2024 (v. l.): Tim Stohlmann, 1. Vorsitzender der JU im Kreis Unna und Alexander Höll, 1. Vorsitzender der Jusos im Kreis Unna mit Redakteur Marcus Land. © Marcel Drawe
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Was verbinden Sie persönlich mit Europa?

Alexander Höll: Europa empfinde ich als wirklich etwas zentral Wichtiges. Ich habe selber einen Migrationshintergrund, auch von der polnischen Seite her. Und von daher mache ich natürlich sehr viel Urlaub auch im Ausland, in meiner zweiten Heimat sozusagen.

Grenzkontrollen haben wir nicht durch die Europäische Union. Es erleichtert die Anreise, wenn wir nicht diese ständigen Grenzkontrollen haben. Ich gehe aufs Städtische Gymnasium in Bergkamen, wo wir eine wirklich gelebte Kultur haben, was die Partnerstädte angeht. Für die Schülerinnen und Schüler ist das natürlich ein Erlebnis, was die Europäische Union da möglich macht.

Tim Stohlmann: Ich durfte in einem grenzenlosen Europa aufwachsen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Ich glaube, wir müssen uns klarmachen, Europa, das fängt quasi mit vollen Regalen im Supermarkt an, geht bis zum Roaming. Selbstverständlich bedeutet das auch, dass wir unsere Städtepartnerschaften haben, dass wir Schulaustauschprogramme haben. Ich selber plane gerade im Rahmen meines Masterstudiengangs noch mal ein Auslandssemester, wie über das Erasmus-Programm. Wir müssen uns klarmachen: Europa steckt im Alltag drin.

Juso-Kreisvorsitzender Alexander Höll hält einen Werbeflyer zur Europawahl 2024 in die Luft
Europawahl nicht verschlafen: Juso-Kreisvorsitzender Alexander Höll (17) wirbt für den Urnengang am 9. Juni.© Marcel Drawe

Was hören Sie in Ihrem privaten Umfeld vor der Europawahl?

Tim Stohlmann: Ich erlebe da eine sehr differenzierte Perspektive. Ich glaube, wir können unzweifelhaft sagen, Europa genießt großes Ansehen. Aber die Wahlen zum Europäischen Parlament stiften nicht so viel Begeisterung, wie sie stiften sollten.

Wenn wählen gehen nicht mehr als Privileg wahrgenommen wird, sondern als eine Art Bürgerpflicht, dann ist das in meinen Augen ein Rückschritt. Es ist ganz wichtig, dass wir alle verstehen: Wer nicht zur Wahl geht, der entscheidet sich gegen die Europäische Union. Und es ist auch für die jungen Generationen ganz wichtig, dass wir Europa nicht den Rechten und den Populisten überlassen.

Alexander Höll: Man muss da differenzieren. Mein politisches Umfeld ist ganz klar für Europa und wird auch zur Wahl gehen. Wenn ich dann aber auf meinen engeren Freundeskreis gucke, dann ist dieses Thema gar nicht so gehypt.

Man weiß, dass eine Wahl am Sonntag stattfindet. Es wird als eine Bürgerpflicht wahrgenommen und gar nicht als etwas, womit man sich unbedingt identifiziert und sagt: „Ich gehe jetzt zur Wahl, weil ich möchte …“. Das ist zwar Thema im Unterricht. Aber es ist nicht so, als wenn die Leute auf die Straße gehen, mit einer Europa-Fahne und die schwingen und sagen: Ich bin überzeugter Europäer zu hundert Prozent und ich lebe das Ganze. Ich habe das sozusagen verinnerlicht.

JU-Kreisvorsitzender Tim Stohlmann (21) hält einen Werbeflyer zur Europawahl in die Luft
Am 9. Juni wählen gehen: Auch JU-Kreisvorsitzender Tim Stohlmann (21) hofft auf viele Stimmen für alle demokratischen Parteien.© Marcel Drawe

Herr Höll, was bedeutet für Sie als 17-Jähriger eine Stimmabgabe?

Alexander Höll: Ich habe in meinem Leben noch kein einziges Mal gewählt. Das ist das erste Mal, dass ich mein Kreuz machen darf und für mich bedeutet das natürlich viel, weil so eine Stimme, die ist schon viel wert.

Wir haben es im Saarland gesehen, den Grünen hat es an wenigen Stimmen gefehlt, sonst wären sie in den Landtag eingezogen. Da sind sie aber nicht. Ich glaube, es waren 24 Stimmen. Daran kann man erkennen, was eine Stimme ausmacht.

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Die Interviewpartner

Alexander Höll (17) aus Bergkamen ist seit Februar 2024 Vorsitzender der Jusos im Kreis Unna und Tim Stohlmann (21) aus Werne ist seit Februar 2024 Vorsitzender der Jungen Union im Kreis Unna.

Herr Stohlmann, wie empfinden Sie das Wahlrecht?

Tim Stohlmann: Ich habe bei allen Wahlen gewählt, wo es mir bisher möglich war. Ich habe es jedes Mal als sehr großes Privileg empfunden, dass ich wählen gehen und die Zukunft mitgestalten darf. Und gerade im Fall von Europawahlen muss man ja an der Stelle betonen, wir haben in der vergangenen Legislaturperiode im Europäischen Parlament Abstimmungen gesehen, wo es am Ende auf einzelne Stimmen der hunderten Abgeordneten ankam. Das heißt, dass dieses Mal wirklich jede Stimme zählt.

Welche Wünsche haben Sie an die EU?

Alexander Höll: Mein großer Wunsch ist ganz einfach, dass man versucht, eine gewisse Nähe herzustellen. Dass man den Leuten zeigt: Wir sind die Europäische Union. Das machen wir. Dass man versucht, Abläufe einfach darzustellen, dass man das erklärt.

Die EU sollte das Thema Klima nicht vernachlässigen. Es ist wichtig, dass wir in Deutschland nicht gegen den Klimawandel alleine steuern. Das können wir nur global lösen, mit anderen Ländern zusammen.

Auch der interkulturelle Austausch muss gefördert werden – denn diesen Gedanken von Nationalismus, der jetzt aufkommt, müssen wir verhindern. Das spricht ganz einfach gegen die Motive der Europäischen Union. Wenn Konrad Adenauer und Helmut Kohl oder Willy Brandt und Helmut Schmidt sehen würden, was heute hier los ist, würden sie, glaube ich, einen Kollaps kriegen.

Tim Stohlmann: In der Tradition Konrad Adenauers hoffe ich natürlich, dass bei diesen Europawahlen die Demokraten gestärkt werden. Der Green Deal ist das ambitionierteste Klimaschutzprogramm der Erde, aber der Beschluss alleine reicht nicht. Jetzt müssen wir auch in die Umsetzung.

Das Parlament muss vieles, was es sich schon in der letzten Legislaturperiode vorgenommen hat, erst mal machen, bevor wir uns neue Ziele wünschen.

Es wäre auch sehr sinnvoll, wenn Maßnahmen, die bereits bei den Bürgern ankommen, beispielsweise Schüleraustauschprogramme, weiter aufgebaut werden.

Die Nähe zu Europa, die schafft man, indem man Europa spürbar macht und da müssen wir ran, sonst werden wir Teile der jungen Generationen verlieren.

Ich glaube auch, es wäre ganz wichtig, dass der Eindruck „die in Brüssel machen, was sie wollen“, verschwinden muss, sonst wird Europa an Rückhalt verlieren.

Tim Stohlmann (l.) und Alexander Höll im Videostudio des Hellweger Anzeigers
Tim Stohlmann (l.) und Alexander Höll kritisieren, dass das Europawahlsystem mit weitgehend unbekannten Kandidaten die EU nicht besonders nahbar erscheinen lässt.© Marcel Drawe

Wenn Sie Werbung machen müssten: Warum ist die EU wichtig?

Alexander Höll: Das kann ich mit zwei Worten ganz gut ausdrücken: kein Krieg. Oder, wenn man es noch kürzer sagen möchte: Frieden. Das ist ja wirklich existenziell.

Das ist das längste Friedensprojekt, das wir jemals hatten auf dieser Erde.

Ganz cool ist an Europa auch, dass es zwar indirekte Absprachen gibt, mit wem man zusammenarbeiten möchte, aber es gibt nicht so etwas wie in Deutschland, dass drei Parteien ein Bündnis bilden und ihre Ziele abarbeiten.

Im Europaparlament ist ja noch nicht mal ein Fraktionszwang dahinter, sondern jeder Abgeordneter kann abstimmen, wie er es für richtig hält. Ich finde, da kann auch Deutschland noch lernen, was Gemeinschaftlichkeit angeht.

Tim Stohlmann: Selbstverständlich ist Europa das größte und erfolgreichste Friedensprojekt der Erde. Das ist ein neuer Schritt in der Zivilisation gewesen, dass wir diesen Weg gegangen sind.

Europa – das sind aber auch menschliche Schicksale. Wenn man sich das Leben in den Grenzregionen anguckt, wenn man sich die Lebensläufe junger Menschen anschaut, wenn wir sehen, was Europa alles tut und macht und ermöglicht, dann ist klar: Europa geht uns alle an.

Selbst Menschen, die das kritisch sehen und das nicht gut finden, sind trotzdem von Europa betroffen. Von den Gesetzen im Bundestag kommt ein signifikanter Anteil direkt aus Brüssel und Straßburg.

Das heißt, das ist keine unwichtige Wahl mehr, auch wenn in der Bevölkerung vielleicht manchmal der Eindruck entsteht. Deswegen möchte ich dafür werben, dass wir alle am 9. Juni zur Wahl gehen.

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