
Diesen zuerst am 20. Februar 2023 erschienenen Artikel veröffentlichen wir im Rahmen des Jahresrückblicks 2023 noch einmal.
Wir haben uns daran gewöhnt, wir kennen es gar nicht mehr anders: Es mag regnen, soviel es will, die Seseke bleibt in ihrem Bett. 2014 wurde die Renaturierung abgeschlossen – und trotz der immensen Kosten von 500 Millionen Euro ist der Umbau für viele Bürger jeden Pfennig wert. Kein Wasser mehr im Keller, viele Kilometer Wander- und Radwege.
Das war aber nicht immer so. Am 2. Februar vor genau 100 Jahren schaffte es dieses Flüsschen, zu einem reißenden Strom zu werden, der alles mitriss, was sich ihm in den Weg stellte. Aber der Reihe nach.
Im stehenden Wasser sammelten sich Schmutz und Fäkalien
Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Industrialisierung war die Seseke ein ruhiger Flachlandfluss, der zweimal im Jahr die Mersch überschwemmte. Das wusste und kannte man. Die alten Fachwerkhäuser in der Innenstadt hatten unter anderem deswegen keinen Keller. Die zu trocknen wäre viel schwerer gewesen, als das Wasser aus dem Erdgeschoss nach draußen zu schieben.
Alles änderte sich mit dem Einzug der Zeche Monopol in Kamen 1873. Die Kohle, die aus dem Gebirge unter Tage gefördert wurde, hinterließ Hohlräume, die nach und nach einbrachen und über Tage zu Bergschäden führten. Es entstanden Senken, Bäche veränderten ihren Lauf. Überall sammelte sich Wasser, stand in den Mulden, was besonders im Sommer zu Mückenplagen führte. Im stehenden Wasser sammelten sich Schmutz und Fäkalien.

Heute haben wir Auspuffgase von Autos, damals den Kot von Tieren
Heute haben wir Auspuffgase von Autos, damals den Kot von Tieren und, ja, wohl auch Menschen. Die Kanalisation war erst in ihren Anfängen, sie wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg fertiggestellt. Kleine Kinder spielten draußen, meistens barfuß, weil Lederschuhe teuer waren und allenfalls an Sonntagen zum Kirchgang getragen wurden, und in den üblichen Holzschuhen war das Spielen so eine Sache. Und die kleinen Kinder kümmerten sich kaum um hygienische Verhältnisse, wussten nichts von Infektionen und Seuchen, steckten sich an, trugen ihre Krankheit nach Hause, wurden zum Ausgangspunkt von Seuchen.
Der Kipppunkt, wie wir heute sagen, kam im Oktober 1905, als die Zeche Königsborn III/IV, Schacht Bönen, eine riesige Menge Ammoniak in den Fluss leitete und diesen in ein totes Gewässer verwandelte. Die Märkische Zeitung schrieb wiederholt zu diesem Thema: „Unsere Sesike ist jetzt ein totes Wasser geworden, kein lebendes Wesen, weder Fisch noch Frosch, noch sonst ein Tierchen macht sich darin bemerkbar. … Viele Zentner der schönsten Fische aller Art, sowie Millionen kleiner Fische, der jungen Brut, bedeckten die Oberfläche des Wassers und wurden von zahllosen Fischliebhabern aufgefangen und als gute Beute heimgeholt.“

Die Zechenbarone lehnten jede Verantwortung ab
Die Zechenbarone lehnten jede Verantwortung ab und weigerten sich, Schadenersatz zu leisten. Jetzt war den Kamenern ein großer Teil ihrer Nahrungsgrundlage entzogen. Noch der Stadtchronist Pröbsting berichtete in den 1830er Jahren von Fisch-, Muschel- und Krebsfängen in der Größenordnung von Zentnern an einem Tag.
Also wurde 1913 die Sesekegenossenschaft mit dem Ziel gegründet, den Fluss zu regulieren. Die Grundüberlegung: stehendes Wasser führt zu Hygieneproblemen, schnell abfließendes Wasser ist die Lösung. So wurde die Seseke ab 1925 in Betonsohlschalen gezwängt. Doch erkannte man sofort, dass es kein isoliertes Wassersystem gibt, dass Abhilfe nur geschaffen werden konnte, wenn man das Flusssystem der Lippe, zu dem die Seseke gehört, insgesamt behandelt. Also schlossen die Kamener sich dem 1926 gegründeten Lippeverband an. Der Bau des Klärwerks 1942 vervollständigte die Maßnahme. Nun floss das Wasser ab, aber es gab keinen natürlichen Fluss mehr. 80 Jahre lang würde die Seseke eine offene Kloake sein, die in einem trockenen Sommer erbärmlich stank.
Und wegen ihrer hohen Fließgeschwindigkeit war sie sehr gefährlich geworden. Sie bot kein Ufer mit festem Halt mehr. Noch 1998 ertrank ein Kind in ihr.

Die große Flut vor einhundert Jahren
Anfang Februar 1923 hatte es tagelang geregnet. Die Sesekeumbauarbeiten waren gerade am Mühlenkolk der Mühle Ruckebier angelangt. Hier wurde der Fluss durch einen Stadtgraben eingeengt. Um arbeiten zu können, legte man einen Umflutgraben an, der durch einen Damm gesichert wurde. Der würde halten, war man überzeugt. Doch „do kennt dä Lüe (Leute) user Sesike schlecht,“ sagte ein alter Kamenser. Und dann geschah es: „Da sprang gestern um die erste Mittagsstunde der Damm mit Krach und Getöse entzwei. Die Wassermassen setzten sich mit aller Kraft durch und nahmen die schweren Balken, die Bretter und Brettchen mit Leichtigkeit mit.“ (Kamener Zeitung, 3. Februar 1923)
Merkwürdigerweise war genau das gleiche 125 Jahre vorher bei einem Umbau schon einmal geschehen.

Im Jahre 2012 gab es zum letzten Mal richtig hohes Wasser
Im Jahre 2012 gab es zum letzten Mal richtig hohes Wasser, doch richtete es in der Stadt keinen Schaden mehr an. Die vielen die Renaturierung der Seseke begleitenden Maßnahmen erfüllen ihren Zweck. Aber denken wir ans Hochwasser vom Sommer 2021. Wer kann sicher sein, dass nicht auch die Seseke wieder einmal Kamen unter Wasser setzt?