Mit 16 wurde Nils* das Herz gebrochen Paartherapeut Benedikt Bock erklärt, wie ihn das bis heute lähmt

Benedikt Bock.
Benedikt Bock ist Diplom Psychologe und Paartherapeut. © Stephan Schuetze
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Man bringt es Frauen schon lange bei, dass sie für einen Partner vor allem körperlich attraktiv sein müssen, mit den bekannten Folgen des kritischen Blicks auf sich selbst. In patriarchalen Zeiten war Männern dies eher fremd, sie mussten vor allem beweisen, dass sie eine zu gründende Familie beschützen und vor allem ernähren konnten.

Dies ist schon seit längerem im Wandel. Frauen sind unabhängig geworden, und sie sind (das weiß man aus Untersuchungen in Dating-Portalen) wählerischer bei der Partnerwahl als Männer. In der App Tinder wischen Frauen deutlich weniger Profile nach rechts („Like“) als Männer, die ihre „Likes“ ziemlich großzügig an Frauen verteilen.

Etwa 80 Prozent dieser „Likes“ der Frauen verteilen sich auf die etwa 20 Prozent der attraktivsten Männer. Dies dürfte bedeuten, dass ein durchschnittlich attraktiver Mann auf Tinder kaum ein sogenanntes „Match“ erzielt, das heißt einen „Like“, den nicht nur er gegeben hat, sondern den die betreffende Frau ebenfalls an ihn verteilt hat.

Ein Mann muss also heute mehr bieten als früher, sowohl bei der Partnerwahl als auch später in einer Beziehung. Unter dem plakativen Schlagwort „Female Choice“ macht dieses Phänomen seit einiger Zeit in den Medien die Runde.

Viele Männer reagieren auf diese Abfuhr beim Online-Dating zutiefst menschlich und nicht anders, als es Frauen tun: Sie fühlen sich zurückgewiesen und gekränkt, sie beginnen an sich selbst zu zweifeln. In der Folge gehen sie unsicherer in den nächsten Beziehungsversuch.

Sicherer oder unsicherer Bindungsstil?

Hier braucht es einen kleinen Exkurs in die Bindungstheorie. Je nach Beziehungserfahrung in Kindheit und Jugend entwickeln Menschen etwas, das in der Psychologie Bindungsstil genannt wird. Haben wir als Kind hinreichend verlässliche Antworten unserer Bezugspersonen bekommen, übertragen wir dies in Form von Vertrauen in die Bindung auf unsere anderen Beziehungen. Das Bindungsmodell wird als „sicher“ bezeichnet.

Erfahren wir dagegen als Kind zu viel Zurückweisung oder Gleichgültigkeit, oder ist die Antwort mal zugewandt und mal nicht, hinterlässt dies bei uns die Überzeugung, dass wir uns auf die Bindung uns nahestehender Menschen nicht gut verlassen können, wir entwickeln einen Bindungsstil, der „unsicher“ genannt wird.

Diesen gibt es in zwei unterschiedlichen Ausprägungen: Menschen mit unsicher besorgtem Bindungsstil brauchen viel Rückversicherung darüber, ob der Bindungspartner „wirklich“ bei ihnen ist, Menschen mit unsicher vermeidendem Bindungsstil scheuen sich davor, überhaupt eine tiefe Beziehung aufzubauen, sie neigen dazu, vor ihnen zu fliehen.

Auch wenn dieser Bindungsstil in Kindheit und Jugend angelegt wird, ist er über die Lebensspanne veränderbar. Unsicher gebundene Menschen können durch spätere verlässliche Beziehungserfahrungen einen sicheren Bindungsstil aufbauen, und leider kann dies auch umgekehrt geschehen.

Die Geschichte von Nils

Nach diesem kurzen Exkurs schauen wir uns Nils an (*Name und identifizierende Begebenheiten geändert). Er kommt in meine Praxis, weil er mit 28 Jahren noch nie eine „richtige“ Beziehung hatte. Mit „richtig“ meint er: eine Beziehung, in der es auch zum Sex kommt. Freundschaften mit Frauen pflegt er schon, aber er rutscht stets in die „Kumpel-Zone“, auf der Gegenseite „funkt“ es nie.

Er glaubt, dass mit ihm etwas nicht richtig ist, er die Frauen falsch anspricht, nicht ausreichend „kerlig“ ist. Deshalb ist er kurz davor, sich damit abzufinden, keine Partnerin zu haben. Aber eine Freundin hat ihm geraten, er solle doch mal „mit einem Mann“ darüber sprechen, der sich damit auskenne. Und so kommt er zu mir.

Mit der Jugendliebe in der Oper

In einem so gelagerten Fall lohnt es, sich mit dem Klienten zunächst die Jugendzeit anzuschauen, denn erste Erfahrungen in der Pubertät haben einen großen Einfluss darauf, wie wir später Partner suchen und welcher Bindungsstil sich in romantischen Beziehungsversuchen herstellt. Hier erzählt mir Nils eine beschämende Geschichte, die er mit 16 Jahren erlebt hat: Er hatte sich in eine Klassenkameradin verliebt, zum ersten Mal gestand er sich das ein, sie saßen nebeneinander, sie verstanden sich gut, sie lachte viel über seine Witze.

Gemeinsam hatten sie eine Leidenschaft entdeckt, die sie von den Altersgenossen abhob: Sie gingen gerne in die Oper. Und so trafen sie sich abends, sie hatten ein gemeinsames Abo. Bei einem Besuch fasste er sich ein Herz und versuchte ihre Hand zu nehmen.

Sie aber zog sie energisch weg und schaute ihn entgeistert an: Sie würde mit ihm nur in die Oper gehen wollen, warum mache er das jetzt kaputt? Außerdem hätte sie nie gedacht, dass er „so“ wäre, er solle sich mal ansehen, es müsse ihm doch klar sein, dass er in ihrer Liga nicht spiele.

Ein Recht auf Erwiderung gibt es nicht

Warum Nils‘ Opernbegleitung sich so erschreckt hat, lässt sich nicht sagen. Die Hand nehmen zu wollen, könnte man als ein unschuldiges Unterfangen ansehen, offensichtlich war es für sie aber nicht so. Man(n) muss das akzeptieren. Ein Recht auf Erwiderung einer Annäherung gibt es nicht.

Nils hat aber in dieser Situation, in der er sich in seiner Geschlechtsrolle noch ungelenkerweise finden musste, zweierlei gelernt: Es ist einem Mädchen (und später einer Frau) unangenehm, wenn er sie berühren möchte, es geht für ihn beschämend aus, und deshalb muss er sehen, dass er in einer sicheren Zone bleibt. Und als zweites hat er gelernt, dass er bei Mädchen wohl nicht so gut ankommt und das nicht gut einschätzt.

In späteren Beziehungsversuchen verhält er sich daher unsicher vermeidend. Er kommt möglichst nicht näher, um nicht zu nahe zu kommen. Als ich mit ihm seine Kontakte mit Frauen durchgehe, muss er selbst feststellen, dass er Signale der Annäherung geflissentlich übersah und ins „Harmlose“ umbog.

An Interessentinnen hat es nämlich bei genauerem Hinsehen nicht gemangelt. Er selbst war es nur immer, der aus Angst vor Zurückweisung und Abwertung lieber die Zugbrücke oben ließ. Minnesängerinnen wollten die Frauen aber nicht sein und zogen weiter.

Was hilft nun weiter? Wir Menschen neigen dazu, einmal entwickelte Bilder immer wieder zu bestätigen. Die erste Zurückweisung wird so zur Prognose für den Ausgang zukünftiger Begegnungen, und das gibt dem Menschen ein Stück Sicherheit. Eine frustrierende Erfahrung hat Nils bei genauerem Hinsehen aber nur beim ersten Versuch einer Annäherung an eine Frau gemacht.

Selbsterfüllende Prognosen

Danach hat er mit dafür gesorgt, dass seine Prognosen eintrafen, denn er befürchtete die gleiche Beschämung, die er als unreifer 16-Jähriger erlebte. Nun würde kein Mensch davon ausgehen, dass man immer eine Eins würfelt, nur weil das beim ersten Wurf so war. Das liegt daran, dass die Folgen einer Eins im „Mensch-ärgere-Dich-nicht“ bisweilen gefühlt dramatisch, aber nie ernst sind. Neuer Wurf, neues Glück.

Nils hat sein Muster entdeckt. Die weitere Arbeit ist Ermunterung zum spielerischen Erproben. Er kann nämlich nun zweierlei gleichzeitig tun: Jede Begegnung als unabhängig von den anderen und damit einzigartig ansehen, wie einen Wurf mit dem Würfel. Jeder Beziehungsversuch ist neu.

Und er kann nachsichtig mit sich sein, wenn er entdeckt, dass er immer noch vorsichtig in der Sicherheitszone bleibt, vielleicht tut er es ja schon weniger als beim letzten Mal.

Ein paar Jahre nach Ende der Therapie habe ich ihn zufällig aus der Ferne mit einer Frau durch die Fußgängerzone gehen sehen. Es sah für mich so aus, als wäre er mit ihr zusammen. Genau konnte ich es aber nicht sagen.

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Zur Person

Benedikt Bock (55) ist Diplom-Psychologe und Systemischer Therapeut mit Anerkennung durch die Systemische Gesellschaft (SG). Er arbeitet in seiner eigenen Praxis in Dortmund. Seit über 20 Jahren unterstützt er Paare und Einzelpersonen bei Problemen, die sich rund um die Themen Liebe und Beziehungen drehen. Dabei hat er entdeckt, dass Männer manchmal dankbar für einen eigenen geschützten Raum zum Reden sind. Näheres unter www.benedikt-bock.de.

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