Warum grapschen Männer, Benedikt Bock? Das hat nicht nur mit Macht zu tun, sagt der Psychologe

Benedikt Bock ist Paartherapeut, der sich in seiner Arbeit auf die Fragen und Sorgen von Männern spezialisiert hat.
Benedikt Bock ist Paartherapeut, der sich in seiner Arbeit auf die Fragen und Sorgen von Männern spezialisiert hat. © Stephan Schütze
Lesezeit

Karneval ist ein Weilchen vorbei, im Rheinland wurden unzählige Nubbel verbrannt, auf die alle Sünden geworfen wurden, die während der tollen Tage begangen wurden. Dabei denkt man eher an die Küsse, von denen man nicht erst seit Jupp Schmitz an Aschermittwoch nichts mehr wissen darf, weniger an die unschönen Kehrseiten, die sich in allen möglichen körperlichen Übergriffen gezeigt haben. Denn das ist leider Realität: An Karneval wird viel gegrapscht, und wie es scheint, überwiegend von Männern. Und leider ist dieses Phänomen nicht nur auf diese Zeit beschränkt.

Was steckt dahinter? Menschen sind Opportunisten. Wenn sich eine Gelegenheit bietet, überschreiten sie gerne Grenzen. Das gilt vor allem dann, wenn diese Überschreitung eher als Bagatelle empfunden wird und wenn das Risiko negativer Konsequenzen klein erscheint. Nicht umsonst ist es leider immer noch so, dass nur Radarkontrollen Autofahrer zuverlässig dazu bringen, Tempolimits einzuhalten. Wer nicht möchte, dass sein Auto gestohlen wird, schließt es ab. Appelle, Autos nicht zu stehlen, sind eher wirkungslos. Ich hatte einmal Glück, als ich das Abschließen meines Autos vergessen hatte. Mein Auto war noch da, aber meine Sonnenbrille war weg.

Offensichtlich sehen aber weder die meisten Männer Grapschen als Bagatelle, noch ist ihr Opportunismus groß genug, um es dann doch zu tun. Die meisten Männer grapschen nicht. Es muss also noch etwas Weiteres dazukommen, dass ein Mann sich dazu entscheidet, eine Frau ohne ihre Einwilligung en passant an intimen Stellen ihres Körpers zu berühren.

Aus feministischer Sicht sind sexuelle Übergriffe Ausdruck patriarchaler Machtverhältnisse und nicht fehlgeleiteten sexuellen Begehrens. Der Mann nimmt sich aus diesem Machtverhältnis heraus das, von dem er meint, dass es ihm zusteht. Dafür spricht, dass sexuelle Übergriffe und Sexualdelikte überwiegend von Männern ausgeübt werden. Sexuelle Belästigung tritt außerdem oft am Arbeitsplatz zwischen Vorgesetztem und Untergebener auf. Aus dieser Perspektive würde nicht nur sexuelle Belästigung verschwinden, wenn die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen aufgelöst würden.

Es ist sehr verführerisch, dem zuzustimmen. Aber wahrscheinlich ist auch dies nur ein Teil des Ganzen. Dazu muss man sich die Kriminalstatistik ansehen. Diese erfasst im Fall der hier angeführten Statistik von Statista zwar lediglich die angezeigten Fälle versuchter oder vollendeter Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung (zu denen Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Missbrauch gehören), und man könnte einwenden, Grapschen sei doch etwas ganz anderes als eine Vergewaltigung. So richtig dies einerseits ist, glaube ich dennoch, dass sie auch zum Verständnis des Grapschens beitragen kann.

Vor allem junge Frauen betroffen

Interessant ist die Zahl der weiblichen Opfer dieser Delikte bezogen auf 100.000 Einwohnerinnen, aufgesplittet nach Altersgruppen, im Jahr 2022. Hier fällt auf, dass laut Statista vor allem 14- bis 18-jährige Jugendliche (629,8) und 18- bis 21-jährige Frauen (512,1) als Opfer in Erscheinung treten. In der deutlich größeren Gruppe der 21- bis 60-jährigen Frauen wurden pro 100.000 Einwohnerinnen lediglich 84,5 Fälle verzeichnet. Selbst wenn wir den Umstand einrechnen, dass jüngere Frauen unerfahrener und sorgloser sein könnten, ist dies dennoch eine hohe Diskrepanz, die vor allem dann nicht auftreten sollte, wenn es lediglich um die Ausübung von Macht geht.

Aus vielen Untersuchungen und auch aus Datingportalen weiß man, dass weltweit und weitgehend kulturunabhängig Männer junge Frauen sexuell attraktiv finden (Das gilt übrigens auch für homosexuelle Männer, die junge Männer als attraktiver als alte einschätzen). Evolutionspsychologisch wird dies damit begründet, dass junge Frauen als fruchtbarer gelten. Ausgerechnet diese als attraktiv angesehene Altersgruppe stellt auch die meisten Opfer. Dies kann man durchaus als Hinweis deuten, dass es doch um fehlgeleitetes sexuelles Begehren geht und nicht nur um Macht.

Möchte ein Mann einer Frau nahekommen, hat er drei Möglichkeiten: Im besten Fall wirbt er um sie mit einigem Aufwand, um sie von sich zu überzeugen, im weniger guten Fall kann er eine bezahlte Dienstleistung in Anspruch nehmen. Oder er spart sich jeweils den Aufwand und nimmt sich das, was er haben will, im Fall des Grapschens, indem er eine Frau überrumpelt und er dann wieder verschwindet. Grapschen kann man aus dieser Perspektive als eine gar nicht so harmlose Form des Diebstahls der körperlichen Integrität ansehen. Wer grapscht, muss also ein gewisses Maß an Delinquenz mitbringen und sich wenige Gedanken über die Konsequenzen seines Tuns machen.

Was tun gegen Grapscher?

In diesem Artikel geht es einmal mehr um eine ziemlich dunkle Seite der Männlichkeit. Viele Männer fühlen sich unter Generalverdacht gestellt, obwohl sie nie auf die Idee kämen, übergriffig zu werden. Eine Frau sagte mir einmal, dass ich das andererseits auch so sehen müsse: Vor mir stehen zehn Flaschen Apfelsaft, sie sehen alle gleich aus. Ich darf mir eine nehmen und trinken. Eine enthält aber Urin. Wäre ich dann sorglos? Meine Antwort dürfte leicht zu erraten sein. Stellen wir uns aber vor, mindestens eine Flasche gibt ein Licht- oder Tonsignal, wenn ich die falsche ergreife. Das würde es dann doch leichter machen.

Diebstahl und Grabschen werden leider nie verschwinden. Männer können aber Frauen ihre Solidarität signalisieren, wenn sie Zeuge einer Tat werden. Denn – denken wir an den Opportunismus – noch immer ist es allzu leicht, unerkannt oder gar gedeckt zu sein. Weder ein Dieb noch ein grapschender Mann mag Öffentlichkeit. Die deutliche und hörbare Ansprache durch Geschlechtsgenossen schafft diese Öffentlichkeit und signalisiert, dass es nicht als harmlos angesehen wird. Vielleicht wird nicht nur der Karneval auf diese Weise ein kleines bisschen ein besserer Ort.

Zum Thema
Zur Person

Benedikt Bock (55) ist Diplom-Psychologe und Systemischer Therapeut mit Anerkennung durch die Systemische Gesellschaft (SG) und eigener Praxis in Dortmund. Seit über 20 Jahren unterstützt er Paare und Einzelpersonen bei Problemen, die sich rund um die Themen Liebe und Beziehungen drehen. Dabei hat er entdeckt, dass Männer manchmal dankbar für einen eigenen geschützten Raum zum Reden sind. Näheres unter www.benedikt-bock.de.

Mehr Jobs

Sie sind bereits registriert?
Hier einloggen