
Dass die Freiheit, etwas nicht machen zu müssen, auch die Freiheit beinhaltet, etwas irgendwann doch machen zu wollen, dürfte Felix Krämer spätestens vor einem Jahr klar geworden sein. Der 37-jährige Geschäftsführer der Krämer Kornbrennerei trat damals die Nachfolge seines Vaters Hans-Hermann Krämer an der Spitze des 1863 von August Krämer gegründeten Unternehmens an – in der fünften Generation.
„Das Auge klar, das Herze hell, hier stehst Du an der Krämer-Quell“ liest man an einer Wand des Gebäudes am Schwanenwall, das Produktionsbetrieb, Industriemuseum, Geschäftslokal wie auch Büro in einem ist. Eine alte Sackkarre trägt einen Jutesack mit dem historischen Aufdruck „50 Kilo Wacholderbeeren“, eine Vitrine zeigt Flaschen aus jeder Generation des Kräuterlikörs „August mit dem Schlips“.
Über 100 Jahre alte Kupferbehälter werden noch heute zur Herstellung der Liköre genutzt. Die Monitore stehen auf historischem Eichenschreibtisch – hier verbinden sich Wissen und Gegenstände aus dem vorvergangenen Jahrhundert mit der Neuzeit.
Physik und Klavierspiel
So etwas hat Felix Krämer schon angefangen zu lieben, als er noch Jugendlicher war. Dennoch: „Ich wusste lange nicht, wo ich hinwollte“, erzählt er. Die Brennerei mit sieben Mitarbeitern jedenfalls war es erstmal nicht. Er studierte Physik in Regensburg und machte sein Diplom, spielt Klavier auf semiprofessioneller Ebene, strebte eine Karriere als Dirigent an – um später festzustellen, „dass das doch nicht mein Weg ist“.

Eine Niederlage? „Nein, das würde ich nicht sagen.“ Ein misslungener Versuch ist einem Physiker ja nicht fremd, „wie ich überhaupt finde, dass die Physik ein gutes Rüstzeug ist, mit anderen Themen furchtlos umzugehen“. Machen und Tun eben. Aber das Interesse am Unternehmen war nie weg: „Ich habe zum Beispiel eine Ausbildung zum Destillateur gemacht, weil ich in der Lage sein wollte, die alten Rezepte weiterzugeben.“ Sozusagen sicherheitshalber.

Wie viel Raum sich die Familie zur Entwicklung gibt, mag man daran erkennen, dass der Geschäftszweig der „Schokolaterie“ einer Idee seiner Mutter Carmen Krämer zugrunde liegt. Sie hatte den Film „Chocolat“ mit Juliette Binoche gesehen und gespürt, dass diese Form der Sinnlichkeit Dortmund guttun könnte. Seitdem stellt sie von Hand unter anderem die „Dortmunder Kohle“ her, Zartbittertrüffel ohne künstliche Aromen und Konservierungsstoffe. Auch hier Machen und Tun. Vater Hans-Hermann schuf mit dem „Dortmunder Korn“ eine Spezialität, Felix plant die Herstellung eines Zitronensaftlikörs, später vielleicht eines Weinbrands. An einen Aquavit hat er ebenfalls bereits gedacht. Er kostet vieles, gern auch von der Konkurrenz. „Geschmack kann sich nur bilden, wenn man probiert“, sagt er.
Aus Madagaskar und Indien
Der Umstand, das Brennen immer noch als Handwerk zu begreifen, lässt Krämer neben all den industriellen Großabfüllern wie den Ramazottis und Underbergs bestehen. Jede der jährlich abgezapften etwa 15.000 Flaschen neun verschiedener Spirituosen trägt das Brenner-Handwerk in sich.
Nehmen wir den „August“ als Beispiel: „Wir besorgen uns aus Madagaskar, aus Indien, aber auch aus der Alpenregion über den Apothekengroßhandel Kräuter und Früchte wie Nelken, Zimt, Anis, Faulbaumrinde, Ebereschenbeeren usw., zerkleinern sie, setzen sie nach dem alten Rezept an, und geben dem Alkohol Zeit, Farbe, Geruch und Geschmacksstoffe anzunehmen.“
Essenzen kämen nicht zum Einsatz. Ihn interessiert nicht, Krämer als Spezialität international zu vermarkten, sich Preiskämpfen auszusetzen, die er nicht gewinnen kann.

Die Fabrikation im Hinterhof eines Gebäuderiegels am Schwanenwall ist Ort und Stelle der historischen Kornbrennerei. Viele der baulichen Elemente erinnern an die Architektur des 19. Jahrhunderts. Es war eine der Verabredungen, die der Sohn mit seinen Eltern traf: Lasst uns die Zweckgebäude mit dem nüchternen Charme der 1970er Jahre umbauen. „Ich wollte, dass der Handwerkscharakter wieder zu sehen ist“, so Krämer.

2014 ergab sich die Möglichkeit zu etwas Großem im Kleinen: Der Gebäudequader, der die Brennerei zum Schwanenwall abriegelt, stand zum Verkauf – und die Familie Krämer gewann das Bieterverfahren. „Ich brauchte damals eine Herausforderung“, erzählt Felix Krämer heute. Hört sich lapidar an. War es aber nicht.
„Alles, was wir an Erspartem hatten, ist da rein gegangen.“ Nach dem Umbau präsentieren sich die „Krämer-Höfe“ in einem warmen Ziegelrot, eine Architektur, die sowohl ästhetisch als auch energetisch nichts mehr zu tun hat mit dem Zweckbau aus den 70ern.
Wachstum ist notwendig
Es ist Risiko – und Unternehmens-Wachstum an anderer Stelle. Vermietung und Verwaltung spielen nun eine größere Rolle. Auch bei kleinen Firmen gehe es ums Wachsen, meint Felix Krämer: „Es ist wichtig, um Arbeitsplätze abzusichern. Und nie in nur eine Sache zu investieren, war schon die Devise meines Großvaters.“
Wie sehr er im Familienverbund denkt, mag man daran erkennen, dass er bei allem die Gedanken seiner Eltern mit einfordert. Hans-Hermann Krämer honoriert das. „Er kämpft für den Standort. Das Gebäude zu sanieren, das hätten wir nie alleine geschafft“, meint er lächelnd, „er aber alleine auch nicht.“

„Meine Mutter und mich haben die Hässlichkeit des Ortes immer gestört“, erklärt Felix Krämer. Architektur interessiere ihn ohnehin, und durch den Erwerb der Immobilie konnte er das Schöne mit der Zweckmäßigkeit verbinden. Im Grunde, so der mit einer Dänin verheiratete Vater von zwei Kindern, „will ich es vor der Haustür einfach nur schön haben“.

Und weil er gerne Dortmunder ist, soll dort – vor der Haustür – längst nicht Schluss sein. Denn Felix Krämer geht es noch um eine andere Sache, und die ist ebenfalls ein Zeichen weitergehenden Interesses. „Ich möchte einen Dortmunder Verschönerungs-Verein gründen“, kündigt er an, „und zwar für Immobilieneigentümer, die sich für die Umgestaltung der Innenstadt interessieren.“ Nichts Vergeistigtes, sondern etwas Praktisches, das sich auf das Stadtbild der Stadt auswirkt.
Verpflichtung gespürt
Alles muss wachsen, um Größe zu erreichen: Carmen und Hans-Hermann Krämer waren so souverän, ihrem Sohn Zeit zu geben, seine vielfältigen Interessen zu leben, bevor er selber so etwas wie Verpflichtung gespürt hat, in fünfter Generation die Brennerei nebst angegliederter „Schokolaterie“ zu übernehmen. „Mit Druck hätte das nie funktioniert“, weiß er heute, „es hätte mir die Freude genommen.“
Nicht ganz ernst gemeint: Aber jemandem die Freiheit zu geben, zu tun und zu lassen, was er will, ist möglicherweise am Ende eine verdammt geschickte Form der Wegweisung. Nein, es musste nicht die Brennerei sein. Ist es aber geworden.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 6. April 2024.