
Den meisten Erwachsenen in Deutschland ist klar, welche Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 begangen wurden. Die Abgründe der NS-Mordmaschinerie treten immer wieder aufs Neue zutage, wenn sich Spurensucher mit Einzelschicksalen beschäftigen. Zum Beispiel mit dem von Herbert Voss aus Unna, den die Nazis umbrachten, als er gerade einmal 16 Jahre alt war.
„Schwachsinnig“ in eine Anstalt
Die Ehrenamtlichen des Unnaer Arbeitskreises Spurensuche haben nun seine Lebensgeschichte recherchiert. Sie erzählen: Herbert Voss wird 1925 in Unna geboren. Als Kind besucht er eine Blindenschule in Soest. 1937 wird ihm von der Schule ein körperlich guter Zustand bescheinigt, geistig hingegen sei er „schwach begabt“.
Seine schulischen Leistungen sind nicht zufriedenstellend und lassen noch weiter nach, nachdem er mehrere epileptische Anfälle erlitten hat. 1938 gilt er der Schule als „schwachsinnig“, zänkisch und streitsüchtig. Ein Anstaltsarzt in Soest bescheinigt Herbert schließlich „Verdacht auf erblichen Schwachsinn“. Er muss die Schule verlassen und kommt in die Provinzialheilanstalt Niedermarsberg.

Zwangssterilisation und Morde an Kindern
Es war eine Zeit, als der Staat Menschen aussortierte, unterstützt, wie man heute weiß, auch von Ärzten. Personen, die an bestimmten Krankheiten litten, galten in der NS-Ideologie als „lebensunwert“. Schon 1934 war in Deutschland die Zwangssterilisation eingeführt worden.
Wer nicht den nationalsozialistischen Rasseidealen entsprach, sollte möglichst keine Kinder bekommen. Hunderttausende Menschen, darunter Behinderte und psychisch Kranke, wurden zwangssterilisiert.
Kinder mit Behinderungen mussten dem Staat gemeldet werden. Die Zahl der Minderjährigen, die daraufhin bis 1945 getötet wurden, wird auf 5000 geschätzt. Parallel zu dieser „Kinder-Euthanasie“ mussten Krankenanstalten und psychiatrische Kliniken auch erwachsene Patienten melden, die dann von Gutachtern überprüft wurden. Ein „Plus“ auf dem Meldebogen bedeutete, dass sie umgebracht werden sollten. Wer der Gesellschaft nicht nützte, sondern ihr zur Last fiel, so die perfide Logik, sollte weg.
Ende in der Duschkammer
Herbert Voss wird von Niedermarsberg aus am 29. Juni 1941 in die Zwischenanstalt Weilmünster gebracht. Einen Monat später gelangt er nach Hadamar. In dem hessischen Ort liegt eine von sechs Tötungsanstalten der Nazis. Herbert erreicht den Ort am 31. Juli 1941 und erlebt schon das Ende dieses Tages nicht mehr. Er wird in der Duschkammer im Keller der Klinik mit Gas ermordet, zusammen mit 73 weiteren Personen.
Erinnerung an sechs Opfer aus Unna
Das NS-Regime und seine Helfer töteten Schätzungen zufolge 200.000 bis 300.000 kranke und behinderte Menschen bei den Euthanasie-Programmen in Deutschland und ganz Europa. Laut Bundeszentrale für politische Bildung gehen Opfervertreter von noch mehr Opfern aus. Allein in Hadamar wurden 15.000 Menschen ermordet und verbrannt.
Eine erste Recherche zu Unnaer Opfern habe 30 Namen hervorgebracht, berichtete nun der Arbeitskreis Spurensuche. Sechs dieser Schicksale hat die Gruppe aufgearbeitet, um der Ermordeten zu gedenken. Alle starben wie Herbert Voss im Jahr 1941: Emma „Emmi“ Schrewe im Alter von 28 Jahren, Charlotte Eppel geb. Cramer (31), Julius Kissing (66), Bernhard Gödde (44) und Ottilie Backheuer (45).

Stolpersteine: Verlegung am 6. Juni
Damit diese Menschen nicht vergessen werden, werden zu ihrem Gedenken am 6. Juni an ihren letzten Wohnanschriften in Unna Stolpersteine verlegt. Der Arbeitskreis Spurensuche hat wie immer bei dieser Initiative die Recherchen betrieben, der Aktionskünstler Gunter Demnig stellt die Pflastersteine mit den Messingplaketten her und verlegt sie an Ort und Stelle. Alle Interessierten sind eingeladen:
- 14 Uhr Kleistraße 65
- 15.15 Uhr Massener Straße 27/Lindenplatz
- 16.10 Uhr Hertingerstraße 28
- 16.20 Uhr Gerhart-Hauptmann-Straße 24
- 16.30 Uhr Gerhart-Hauptmann-Straße 29
- 16.40 Uhr Gesellschaftsstraße 15
- 16.50 Uhr Abschluss am Westfriedhof
Schüler gestalten Gedenken mit
Die Aktion am 6. Juni wird von Schülergruppen mit vorbereitet und gestaltet. Die AG „Schule ohne Rassismus“ der Hellweg-Realschule und die Demokratie-AG „Live in Colour“ des Ernst-Barlach-Gymnasiums haben sich mit den NS-Massenmorden an Kranken und Behinderten beschäftigt.
Im Vorfeld schilderten Schüler der Unnaer Schulen nun ihre Eindrücke und Erfahrungen. Eine Gruppe hat Hadamar besucht, wo heute eine Gedenkstätte ist. „Ich habe einen Tisch gesehen, auf dem Menschen seziert wurden“, berichtete eine Schülerin sichtlich bewegt. Als „beängstigend und kalt“ beschrieb eine Mitschülerin den Keller, in dem sich die Duschkammer befand.
„Es ist sehr schlimm gewesen.“ Einige der Jugendlichen hätten den Keller vor Abschluss der Führung verlassen müssen, weil es „zu heftig“ gewesen sei, berichtete HRS-Schulleiterin Sabine Terwort.
An Unnas Schulen gibt es eine aktive Erinnerungskultur. Auch die Tatsache, dass die weiterführenden Schulen reihum die städtische Auschwitz-Gedenkveranstaltung gestalten, gilt als ein Aushängeschild der Schulstadt und werde von den Schulen als Wertschätzung wahrgenommen, bestätigte Schulleiterin Terwort.
Im Vorfeld der Stolpersteinverlegung gibt es am Donnerstag, 1. Juni, einen Vortrag von Ulrich Reitinger: „Die Dimension des Verbrechens“, 18 Uhr, Nicolaihaus. Infos und Anmeldung: vhs-zib.de