Ein Jahr „Sylt-Video“ Was sich seit dem Döp-Dö-Dö-Döp-Sommer getan hat

Der Pony Club in Kampen
Vor einem Jahr grölten Feiernde im Kampener Pony-Club zu Partymusik „Deutschland den Deutschen“. © picture alliance/dpa
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Ein Freitag auf Sylt. Die nordfriesische Insel ist an diesem frühen Abend in Tristesse gehüllt, das Thermometer verkriecht sich in der Einstelligkeit, der Himmel ist verhangen. Auf der Westerländer Friedrichstraße rücken die Urlauber auf den Terrassen der Lokale unter den Heizstrahlern zusammen. Ein Mann, optisch Phänotyp Punker, die man hier seit dem „9-Euro-Sommer“ 2022 eigentlich immer irgendwo antrifft, fährt auf einem E-Scooter in Richtung Bahnhof. Arbeiter rauchen sich am Bahnsteig der Ankunft des Zuges entgegen.

Kurz vor dessen Abfahrt, zurück ans Festland, kommt dann tatsächlich noch die Sonne raus. Es wird das wenige Erhellende an dieser Recherchereise bleiben, auf der sich die Insel wie eine Auster präsentiert. Seltsam verschlossen.

Ein paar verwackelte Sekunden, über die das ganze Land sprach

Sylt im Mai 2025, das ist ein Ort, an dem man über den Sylter Mai 2024 am liebsten nicht mehr sprechen will. Über das, was sich an Pfingsten in der Gemeinde Kampen zugetragen hatte, sechs Kilometer nördlich von Westerland, auf der Außenterrasse des Nobel-Clubs „Pony“, die zur Bühne eines rassistischen Vorfalls wurde, der die Republik für einige Tage in Atem hielt. Das „Sylt-Video“ ließ eine Welle der Empörung über das Land rollen, die mit voller Wucht zurück auf die Nordseeinsel schlug. Sylt, das war plötzlich ein Synonym für den vermeintlichen Ausländerhass der Eliten, Place to be für Nazi-Schnösel. Das reetgedeckte Reich des Bösen.

Das unheilvolle Video zeigte eine Gruppe junger Partygäste dabei, wie sie den Gigi-D‘Agostino-Hit „L‘amour toujours“ in der damals bereits seit einiger Zeit unter Rechtsextremen populären „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“-Version mitgrölt. Ein paar verwackelte Sekunden, aus denen einem die Überheblichkeit reicher Kinder anzuspringen schien, die Ignoranz einer materiell der Welt entrückten Prosecco-Kaste, „Wohlstandsverwahrlosung“, so nannte das die damalige Grünen-Chefin Ricarda Lang. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sorgte sich indes um „die Verrohung der politischen Umgangsformen“. Und selbst Kanzler Olaf Scholz (SPD) schaltete sich ein. „Solche Parolen sind eklig, sie sind nicht akzeptabel“, sagte er. „Und deshalb ist es auch richtig, dass all unsere Aktivitäten darauf gerichtet sind, genau zu verhindern, dass das eine Sache ist, die sich verbreitet.“

Drei der vier Ermittlungsverfahren wurden eingestellt

Kein Wegschauen mehr, bis hierher und nicht weiter, das sollte die Botschaft sein. Der Staatsschutz hatte sich der Sache da bereits angenommen, Ermittlungen wegen Volksverhetzung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen eingeleitet – eine der Personen im Video hatte ein Hitlerbärtchen imitiert, dazu den Arm zum Führergruß erhoben, lässig zum Beat wippend. Niedertracht, die auch die Inhaber des Pony-Clubs dazu veranlasste, nicht nur Hausverbote auszusprechen, sondern auch Strafanzeige zu stellen. Ende April 2025 stellte die Staatsanwaltschaft Flensburg drei der vier Ermittlungsverfahren ein. Nur der Hitlergruß hat Folgen: Der Mann, der ihn zeigte, erhielt eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, mit einer Bewährungsauflage von 2500 Euro.

„Sylt oben links nicht rechts“ steht auf einem Plakat, dass eine Frau bei einer Mahnwache am 26.05.2024 auf Sylt in der Hand hält.
„Sylt oben links nicht rechts“ steht auf einem Plakat, das eine Frau bei einer Mahnwache im vergangenen Jahr hochhält.© picture alliance/dpa

Ein Jahr danach ist vom großen Beben nichts mehr zu spüren. Im Kampener Strönwai, auch als „Whiskymeile“ bekannt, herrscht längst wieder Regelbetrieb. An diesem Freitag Anfang Mai, kurz nach Saisonstart, kurz vor dem Jahrestag der Vorkommnisse, könnte das, was sich am 19. Mai 2024 hier zugetragen hat und sogar die internationale Presse beschäftigte, nicht weiter weg sein. Galt Sylt als Symbol der Normalisierung rechtsextremer Positionen und Parolen, hat schnell eine andere Normalisierung stattgefunden – die des Geschäfts. Im Pony sitzt die Hautevolee aus Hamburg, München und anderswo wieder unter ihresgleichen beisammen, man schlürft Rosé von Moët, Flaschenpreis 140 Euro. Die kleine Runde, vier Personen nur, mehr ist an diesem frischen Kampener Vorabend nicht los, lässt sich eine zweite kommen.

Später, wenn die Nacht anbricht, wird ein Szene-DJ auflegen, im Innenbereich des Clubs. Mit handverlesener Playlist. Was auf Sylt bedeutet: ohne „L‘amour toujours“. Das Lied, ein Vierteljahrhundert alt und eigentlich ein unschuldiges Liebeslied, ist im Giftschrank verschwunden.

Aber nicht nur auf Sylt wurden im Sommer 2024 rassistische Parolen zu „L’amour toujours“ gegrölt. Es passierte auch, nur zum Beispiel, in Bergholz in Mecklenburg-Vorpommern, in Mittelkalbach in Hessen und in Emden in Niedersachsen. Mehr als 530 Polizeieinsätze gab es wegen der Gesänge zu „L’amour toujours“ bis April 2025 in ganz Deutschland – mindestens, denn nicht alle Bundesländer haben auf eine entsprechende Abfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) Zahlen nennen können.

Und dann, ganz am Ende des Partysommers 2024, war das alles plötzlich irgendwie normal. So schien es jedenfalls an einem Samstagabend in einem Dorf bei Chemnitz. In dem Ort wurde, wie in vielen zu dieser Zeit, ein Oktoberfest gefeiert. Fragte man die Gäste auf diesem Fest nach „L’amour toujours“, nach den rassistischen Parolen zu dem Lied, waren sie nicht überrascht. „Ich höre das auf vielen Dorffesten, leider“, sagte eine junge Frau im Dirndl. Ein Mann wurde noch deutlicher: Auf Festen hier in Sachsen, im Erzgebirge, da sei es „super, super wahrscheinlich“, dass jemand „Ausländer raus“ gröle. „Geht da mal hin“, sagte er. „Da ist Sylt ein Scheißdreck dagegen.“

Warum ist das so? Hört man sich unter den Feiernden um, dann sagen viele: Ja, „Ausländer raus“, das sollte man nicht grölen. Man sollte es mit der Aufregung aber auch nicht übertreiben. Man sollte zum Beispiel, sagen viele, das Lied von Gigi D‘Agostino nicht verbieten, wie es mancherorts passiert ist. „Es gibt immer Kaputte und Verrückte und ich finde, man sollte sowas nicht ausgrenzen“, sagte etwa ein Mann auf dem Fest bei Chemnitz. Und ein anderer findet: Sylt, das war nicht cool. „Aber man muss es halt einfach nicht filmen. Das war der Fehler.“

Man muss es nicht filmen: Diese Haltung ist interessant, denn sie trifft einen wichtigen Punkt. „Deutschland den Deutschen“, das ist ursprünglich eine antisemitische Parole. Adolf Hitler hat sie nicht erfunden, aber verwendet. Und nach ihm benutzten sie andere. Die rechtsextreme NPD auf Wahlplakaten Ende der 80er. Der Mob, der den Angolaner Amadeu Antonio 1990 in Eberswalde so brutal attackiert hat, dass er später starb. Und auch die rechtsextremen Randalierer in Rostock-Lichtenhagen 1992 brüllten „Deutschland den Deutschen“.

Damals riefen also Neonazis die Parole – auf ihren Demonstrationen, im Schutze der Nacht, bei geheimen Konzerten. Jetzt passiert es vor aller Augen. Und: „Deutschland den Deutschen“ – das rufen nicht mehr nur harte Rechtsextremisten, sondern eigentlich ganz normale Leute. Zur Melodie eines Partyliedes. Also so, dass es fast schon harmlos klingt und sich leicht sagen lässt: War doch nur ein Spaß!

Rechtsextremismus in Mitte der Gesellschaft angekommen

Wo kommt das her, dieser vermeintliche Partyspaß? Was ist mit einer Gesellschaft passiert, in der manche Menschen eine rassistische Parole für eine Art guten Joke halten?

Thorsten Hindrichs forscht an der Universität Mainz zu Jugendkulturen, Rechtsextremismus und Musik und findet an der Verbreitung rassistischer Parolen zu „L’amour toujours“ vor allem eines interessant, nämlich „dass das keine Aktion ist, deren Impuls aus der extremen Rechten kam“. Es sei ein Phänomen, das man schon Monate vor Sylt habe beobachten können, das „tatsächlich aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft aufgeploppt ist.“ Und „wenn so eine rassistische Botschaft auch so schnell so eine unglaubliche Eigendynamik entwickelt, dann sagt das viel über Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft“, sagt Hindrichs.

Und der Musikwissenschaftler beobachtet noch etwas anderes: Die rassistischen Parolen zu „L’amour toujours“, die hat sich zwar kein rechtsextremer Stratege ausgedacht. „Die extreme Rechte hat sich aber natürlich gefreut und sofort versucht, da nachzulegen.“ So fuhren zwei bekannte rechtsextreme Musiker eine gute Woche nach Bekanntwerden der Aufnahmen aus dem Pony auf Sylt auf die Insel, nahmen dort eine Art Sylt-Sonderedition ihres Songs „Abschiebehauptmeister“ auf.

Seit Sylt setzt die Szene auf Songs im Ballermann-Stil

Hindrichs sagt, die extreme Rechte versuche schon lange, auf diese Weise mal einen richtigen Hit zu landen: „Spätestens seit Sylt setzt die Szene ganz zentral auf Tracks im Ballermannschlager-Stil.“ Die Rechtsextremen hofften darauf, mit einem davon mal ganz oben in den Download-Charts der Streamingdienste zu landen. Bislang sei das noch nicht so richtig gelungen. „Aber irgendwann wird der Tag kommen, da bin ich mir leider fast sicher“, sagt Hindrichs.

Und im Sommer 2025 – wie geht das weiter? Im Februar vermeldete die Bundespolizei, dass ein 18 Jahre alter Mann in einem Regionalzug bei Münster laut „L’amour toujours“ gehört und dabei mehrmals „Ausländer raus“ und „Sieg Heil“ gebrüllt habe. Anfang Mai stimmten Demonstranten in Nürnberg den Gesang „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ an.

Die Parole, sie ist noch nicht aus der Mode. Wer meint, dass die Vereinnahmung von Popkultur durch die extreme Rechte ausgestanden sei, sich so etwas wie Sylt schon nicht wiederholen würde, muss naiv sein oder demonstrativ wegschauen. Im schlechtesten Fall beides. Und damit noch einmal zurück auf die Nordseeinsel.

Inselverwaltung verweist auf ein Jahr altes Statement – und das Pony schweigt

Die Gemeinde Sylt beantwortet eine RND-Interviewanfrage lediglich mit dem Verweis auf ein Statement vom 24. Mai 2024, das „auch ein Jahr nach dem Vorfall weiterhin Bestand“ habe. Darin heißt es: „Wir wenden uns in jeder Form gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Menschenfeindlichkeit. Insofern begrüßen wir, dass die Betreiber der Bar sehr deutlich Stellung genommen haben.“

Der Pony-Club hatte kurz nach Bekanntwerden des Vorfalls eine Stellungnahme veröffentlicht, unter anderem verlautbaren lassen: „Wir werden in Zukunft noch entschlossener Kante gegen Rassismus, Faschismus und jegliche Form der Diskriminierung zeigen! Nie wieder ist jetzt!“ Auch gegenüber dem RND hatte sich Pony-Geschäftsführer Tim Becker klar von den rassistischen Gesängen auf seiner Außenterrasse distanziert. Man wolle, hieß es, sowohl Mitarbeitende als auch Gäste sensibilisieren, sich mit zivilgesellschaftlichen Gruppen zu dem Thema beraten. „Vielleicht“, so Becker, „kann man dann irgendwann sagen: Im Pony hat es angefangen, dass die Leute endlich darüber nachdenken.“

Der Pony-Club hat die Kommunikation eingestellt

Was davon übrig ist? Der Pony-Betreiber antwortet auf eine neuerliche RND-Anfrage nach einem Interview zu dem, was sich seither getan hat, zunächst mit dem Hinweis, aktuell nicht vor Ort zu sein. Vier weitere Mails, über den Zeitraum von einer Woche geschickt, bleiben unbeantwortet. Der Pony-Club hat die Kommunikation eingestellt. Und so müssen gewisse Dinge für sich stehen. Zum Beispiel, dass der Club es nicht für nötig erachtet, die angekündigte „entschlossene Kante“ auf seinen Social-Media-Kanälen zu zeigen. So steht seit dem 13. April beispielsweise ungelöscht, unwidersprochen ein Kommentar unter dem Beitrag zur kommenden Pony-Pfingstparty auf der Facebook-Seite: „Übt schon mal alle den Hitlergruß.“

Auf dem Instagram-Kanal sieht es kaum besser aus. Ein Nutzer mit offenbar ausländischen Wurzeln kommentierte schon kurz nach dem Pfingstskandal 2024 einen Imageclip mit Hochglanzaufnahmen der verhängnisvollen Party: „Zu weiß, der Ort. Nein, danke.“ Eine der Antworten, mit einer das eigentliche Thema verharmlosenden Anspielung auf Kokainkonsum: „Ich glaub‘, da ist jemand gegen Drogen.“ Versehen mit 22 Likes. Eines dieser Likes: vom Pony-Club selbst.

Und nun naht es also, das Pfingstfest 2025, es wird dann traditionell voll auf Sylt, ausgelassen wie eh und je. Schampus, Spritz und schnelle Karren. Pfingsten 2024? Will man lieber nicht mehr drüber sprechen. Die Party muss weitergehen.

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