
Es ist erst Ende Oktober, aber schon jetzt steht fest: Polizistinnen und Polizisten haben in Deutschland in diesem Jahr mehr tödliche Schüsse abgegeben, als in den Vorjahren. Das geht aus einer Auswertung der Deutsche Presse-Agentur hervor. Im August 2024 ereigneten sich sogar zwei solcher Fälle binnen zwei Tagen. Beide Male trafen die tödlichen Schüsse Menschen, die mit einem Messer bewaffnet waren: In der Ruhrgebietsstadt Recklinghausen erschossen Beamte einen Mann, der in einem Wohnhaus randaliert haben soll. Laut Polizeiangaben war eine Bedrohungssituation für die Einsatzkräfte entstanden. Nur einen Tag zuvor erschossen Polizisten in Moers am Niederrhein ebenfalls einen mit einem Messer bewaffneten Mann, der auf sie losgerannt sein soll.
Tödliche Polizeischüsse sind trotz des nun festgestellten Anstiegs vergleichsweise selten, treffen jedoch häufig Menschen, die mit einem Messer bewaffnet sind. Oft handelt es sich dabei um Personen in psychischen Ausnahmesituationen. In welchen Fällen Polizistinnen und Polizisten zur Dienstwaffe greifen und auf einen Menschen schießen dürfen, ist in den Polizeigesetzen der Länder und in einem Bundesgesetz geregelt. Die jeweiligen Paragrafen gleichen sich dabei weitgehend: Geschossen werden darf, um die unmittelbare Begehung von Straftaten oder die Flucht eines Täters zu verhindern und ihn „angriffs- und fluchtunfähig“ zu machen.
Für Schüsse, die höchstwahrscheinlich tödlich sind, gelten besonders hohe Hürden. Im nordrhein-westfälischen Polizeigesetz heißt es beispielsweise: „Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist.“ Ähnliche oder gleichlautende Formulierungen finden sich auch in den Gesetzen anderer Bundesländer.
Gewerkschaftsvorsitzender: Müssen bei Messerangriffen in Sekundenschnelle die Waffe ziehen
Doch was heißt das in der polizeilichen Praxis? „Wenn ein Messer oder eine andere Waffe im Spiel ist, müssen wir in Sekundenschnelle die Waffe ziehen und schießen“, erklärte Jochen Kopelke, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) im August. „Dabei geht es darum, sofort einen Wirkungstreffer zu erzielen. Deshalb wird in der Regel auf den Oberkörper geschossen. Anders als Arme oder Beine ist der Oberkörper besser zu treffen. Außerdem schränkt ein Schuss in den Oberkörper die Bewegungs- und Reaktionsfähigkeit am zuverlässigsten ein.“
Der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr blickt hingegen kritisch auf einige Polizeieinsätze mit Schusswaffengebrauch. „Nach meiner Einschätzung ist in der Polizei ein Klima entstanden, in dem davon ausgegangen wird, dass der Schusswaffengebrauch das einzige Mittel bei Einsätzen mit Messern ist“, sagte Behr dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es gebe eine Ausbildungsdoktrin, „nach der es unterhalb einer bestimmten Distanz – meist werden sechs bis acht Meter genannt – keine andere sinnvolle Abwehr gegen Messer gibt, als zu schießen“, erklärte Behr, der früher selbst Polizist war. „Dem liegt aber die Annahme zugrunde, dass man von einem Menschen angegriffen wird, der eine Tötungsabsicht hat und auch mit dem Messer umgehen kann.“
Es sei nicht leicht, „zu unterscheiden, ob ein Mensch sich mit einem Messer selbst verletzen will, in einer psychischen Ausnahmesituation zum Messer greift und sich in einer Wahnvorstellung ‚schützen‘ will, oder ob er im Wahn andere Menschen töten will“. In der Polizeiausbildung werde zu wenig trainiert, solche komplexen Situationen erst einmal zu diagnostizieren. „Stattdessen wird nur das Worst-Case-Szenario trainiert, in dem es den Schusswaffeneinsatz braucht“, kritisierte Behr.
Polizeigewerkschafter Kopelke sagte: „Die Grundausbildung der Polizei in Deutschland ist hervorragend.“ Es sei aber fast unmöglich geworden, im Dienstalltag an Fortbildungen teilzunehmen. „Die Polizistinnen und Polizisten hetzen von Einsatz zu Einsatz. Wir brauchen mehr Zeit für Ausbildung im laufenden Dienst, auch für Menschen, die schon zehn oder 20 Jahre bei der Polizei sind.“
Die Polizei könne zudem nicht jede Situation allein lösen: „Wir erleben immer häufiger Situationen, in denen psychisch kranke Menschen in einer Ausnahmesituation zum Messer greifen. Es bräuchte viel mehr medizinische und psychologische Fähigkeiten, um in solchen Situationen einen Schusswaffeneinsatz zu verhindern“, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende. „Die Gesundheitsministerien der Länder müssen eine Verfügbarkeit von Ärzten und Psychotherapeuten gewährleisten, die sofort zur Stelle sind und in solchen Einsätzen für eine Deeskalation sorgen und damit auch die Notwendigkeit eines Schusswaffengebrauchs verhindern können.“ Die Polizei sei zur Gefahrenabwehr da, zur Behandlung von kranken Menschen brauche es aber psychologische Unterstützung durch geschultes Personal.
Taser statt Schusswaffen?
Rafael Behr hat einen anderen Vorschlag: „Polizistinnen und Polizisten könnten gezielt im Umgang mit psychisch erregten Patienten weitergebildet werden, zum Beispiel durch ein Praktikum in der Psychiatrie“, sagte er. „Dadurch wären sie in der Lage, Situationen anders einzuschätzen und auch anders zu intervenieren. Und sie könnten ihr Wissen als Multiplikatoren auch an andere Kolleginnen und Kollegen weitertragen.“
Zudem habe die Polizei im Streifendienst zu wenig Mittel, um Bedrohungssituationen ohne Schusswaffe zu lösen. Behr glaubt, dass das nicht so sein muss: „Wenn in jedem Streifenwagen zwei Maschinenpistolen mitgeführt werden können, muss es doch auch die Möglichkeit geben, Mittel mitzuführen, die weniger tödlich sind.“
„Wir würden uns wünschen, häufiger den Taser statt der Schusswaffe einsetzen zu können“, sagte Jochen Kopelke. Taser verschießen kleine Metallpfeile an dünnen Stromkabeln, durch die ein Elektroschock verpasst wird, der Menschen handlungsunfähig machen soll. „Die rechtlichen Regelungen dazu sind aber bundesweit sehr unterschiedlich. Teilweise sind die Hürden genauso hoch wie für den Schusswaffeneinsatz“, beklagte Kopelke. Er meint: „Wenn Taser schneller eingesetzt werden dürften, ließe sich mancher Schusswaffengebrauch verhindern.“