Steigt Gewalt unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund? Gefährliche gefühlte Wahrheiten

Abgebrannte Böller liegen nach der Silvesternacht auf der Reisholzer Straße, während im Hintergrund Einsatzkräfte der Feuerwehr stehen.
Die gewalttätigen Angriffe auf Polizei- und Rettungskräfte in der Silvesternacht haben zu einer Diskussion über die von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausgehende Gewalt geführt. Zurecht oder nicht? Ein Kommentar. © picture alliance/dpa
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Gefühlte Wahrheiten sind selten eine verlässliche Quelle, um Ereignisse korrekt einzuordnen. Wenn es zwei Wochen lang friert, sind wir uns mit den Nachbarn einig: Seit Jahren war es nicht mehr so kalt. Wenn uns im Sommer zwei Wochen die Hitze quält, reden die ersten wieder vom Jahrhundert-Sommer. Gefühlte Wahrheiten.

Solange es ums Wetter geht, sind sie halbwegs harmlos, die gefühlten Wahrheiten. Bei anderen Themen ist das anders, ganz anders und extrem gefährlich. Ich rede von den Gewaltexzessen in der Silvesternacht.

Die Bilder, die es da aus verschiedenen Städten, vor allem aus Berlin-Neukölln, zu sehen gab, sind in der Tat schockierend. Da greifen ganze Horden außer Rand und Band geratener Chaoten Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte an, beschießen sie mit Raketen und Böllern, demolieren Fahrzeuge. Auf den Bildern ist zudem erkennbar, dass sich augenscheinlich viele junge Menschen, besonders solche mit Migrationshintergrund, beteiligen.

Diese Straftaten, insbesondere die Angriffe auf Menschen, die helfen und Menschenleben retten wollen, sind einfach nur widerlich. Es muss alles getan werden, um die Täter zu fassen und zu bestrafen. An diesem Punkt kann es unter Demokraten keine zwei Meinungen geben.

Der reflexartige Ruf nach härteren Strafen

In den Tagen nach den Silvesterkrawallen entfernte sich dann allerdings die Deutung des Geschehens zunehmend von der Realität. Eine gefühlte Wahrheit verbreitete sich in weiten Kreisen der Bevölkerung – angeheizt durch üblen Krawall-Journalismus – als Tatsache: Die von Jugendlichen, vor allem von solchen mit Migrationshintergrund, begangene Gewalt wird immer schlimmer, rücksichtsloser und brutaler, so verbreitete sich die verallgemeinernde These. Reflexartig erscholl der Ruf nach härteren Strafen, Abschiebungen und überhaupt einem rüderen Umgang mit Menschen, die ausländische Wurzeln haben.

Und das alles wegen einer gefühlten Wahrheit. Ja, die schlimmen Taten hat es in der Silvesternacht tatsächlich gegeben, das ist richtig, aber: Die Verallgemeinerungen sind definitiv falsch und haben mit der Realität nichts zu tun. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS), die definitiv nicht zu den linken Propaganda-Blättern der Republik gehört und daher in diesem Punkt völlig unverdächtig ist, veröffentlichte dazu jetzt eine lesenswerte Analyse.

„Eine Brutalisierung gibt es nicht“

Darin zitiert sie unter anderem den Kriminologen Dr. Christian Walburg von der Uni Münster. In dem Passus heißt es: „Wie verhält es sich also mit der Gewalt in der gesamten Gesellschaft? Nimmt sie zu, wie es sich für viele anfühlt? Der Kriminologe Christian Walburg verneint das. Das Gegenteil sei der Fall. In den letzten zwei Jahrzehnten sei die Gewaltkriminalität rückläufig gewesen. Das gelte gerade für Gewalt bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Eine Brutalisierung gebe es nicht.“

Und auch den großen Anteil junger Menschen mit Migrationshintergrund, die an den Gewaltexzessen in Berlin-Neukölln mutmaßlich beteiligt waren, ordnet die FAS-Analyse ein und zitiert dazu den Kriminologen Prof. Thomas Feltes: „In Neukölln beträgt der Migrantenanteil 40 Prozent, bei jungen Menschen dürfte er noch deutlich höher liegen, ich schätze bei 60 bis 70 Prozent. Dann relativieren sich die in den Medien und von der Berliner Polizei berichteten Zahlen doch erheblich.“

Wie der Berliner Tagesspiegel berichtete, wurde inzwischen die ursprünglich genannte Zahl von 145 Menschen aus 18 verschiedenen Nationen, die nach Angriffen auf Polizei und Feuerwehr festgenommen worden waren, auf 38 deutlich nach unten korrigiert. Die übrigen 107 wurden wegen anderer Delikte festgenommen. Von diesen 38 Festgenommenen waren laut Tagesspiegel zwei Drittel deutsche Staatsbürger, die meisten jünger als 21 Jahre.

Können Ilkay, Jamal oder Youssouffa wirklich Deutsche sein?

Zwei Drittel Deutsche? Kann nicht sein, dachte sich wohl die CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und erfragte die Vornamen der Tatverdächtigen der Silvesterkrawalle. Den CDU-Abgeordneten reichte es offensichtlich nicht, dass jemand einen deutschen Pass besitzt. Das würde ja ihrer gefühlten Wahrheit widersprechen.

Der Gedankengang der CDU-Angeordneten liegt da wie ein offenes Buch: Erst wenn jemand Paul, Emil oder Stefan heißt, wird ein Mensch als „echter Deutscher“ eingestuft. Jemand namens Ilkay, Jamal oder Youssouffa (alles übrigens Vornamen deutscher Fußballnationalspieler!) kann doch nicht wirklich Deutscher sein. So etwas nennt man Rassismus.

Politische Forderungen mit fragwürdiger Begründung

Gefühlte Wahrheiten können, das räume ich gerne ein, vielleicht auch mal richtig sein. Im Fall der Silvesterkrawalle allerdings verleiten sie zu verhängnisvollen Trugschlüssen. Daraus werden dann politische Forderungen abgeleitet, die mit gefühlten, leider aber falschen Wahrheiten begründet werden. Wer in der Gesellschaft an welcher Position auch immer Verantwortung trägt, sollte sich nicht auf gefühlte Wahrheiten verlassen. Niemals.