Anja (7) aus Marl starb bei einem Unfall in Paris „In uns ist die totale Leere“

Eine Familie sitzt auf dem Sofa vor einem Foto ihrer verstorbenen kleinen Tochter.
Zusammenhalten in schweren Zeiten: Dr. Jana Emmrich (li.) steht Kristina und Roman Plankevych bei. © Jörg Gutzeit
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Zwei große Fotos von Anja (7) in einer traditionellen Tracht der Ukraine hängen an den Wänden des kleinen Wohnzimmers in Marl. Sie zeigen ein verschmitzt lächelndes fröhliches Kind. Anja starb am 3. Juli bei einem Verkehrsunglück nahe der berühmten Champs Élysées in Paris. Kristina und Roman Plankevych halten sich an den Händen, während sie darüber sprechen, was mit ihrer Tochter geschah. Sie betonen, wie viel Hilfsbereitschaft sie erfahren haben – aus der eigenen Familie, vom Verein „Vest ohne Grenzen“, von Menschen, die sie nicht kennen und die trotzdem etwas für die junge Familie aus der Ukraine tun wollen. „Wir wollen ihnen allen Danke sagen“, sagt Kristina (30) gefasst. Wie viel Mühe es sie kostet, dieses Gespräch zu führen, lässt sie uns nicht spüren. Ehemann Roman (33) nickt.

„Sie haben keine Kraft“

Es sei die totale Leere in ihnen, erzählen beide. Aber manchmal breche die Verzweiflung aus ihnen heraus. „Es kommt wie in Wellen“, so beschreibt es Roman Plankevych. An Alltag ist nicht zu denken. Eltern und Schwester helfen, die täglichen Pflichten zu erledigen – und sie kümmern sich liebevoll um Dimitrij, Anjas kleinen Bruder. „Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich immer noch krank geschrieben bin“, erklärt Roman Plankevych leise. Er ist ebenso wie seine Ehefrau studierter Jurist. In Deutschland hat er seine Liebe zum Tätowieren zum Beruf gemacht und bei Pascal Kurz, der in Dorsten das Tattoostudio „Lucky Tattoo by Pascal“ betreibt, eine Stelle gefunden. Ein Jahr lang hat der junge Familienvater durchgearbeitet und auf den ihm zustehenden Urlaub verzichtet, um für die Reise nach Paris zu sparen.

„Sie haben beide gar keine Kraft“, sagt Dr. Jana Emmrich, die bei unserem Gespräch dabei ist. Sie ist Vorsitzende des Vereins „Vest ohne Grenzen“. Die 48-Jährige kümmert sich um die Ukrainer, seitdem sie nach Marl gekommen sind. Zwischen den Familien sind dabei enge freundschaftliche Bande gewachsen.

Ein junges Paar in Trauer sitzt an einem Tisch.
Kristina und Roman Plankevych möchten sich für den Zuspruch und die Unterstützung bedanken, die ihnen nach dem Tod ihrer Tochter zuteil wurden.© Jörg Gutzeit

Der 3. Juli war der Schicksalstag, der das Leben der Familie Plankevych zertrümmerte – gerade als sie dabei waren, hinter sich zu lassen, was ihnen im Krieg in der Ukraine und mit der Flucht aus Mariupol widerfahren war. Die Reise mit Tochter Anja nach Paris, der Besuch im Disneyland sollte ihnen nach all dem Erlebten ein paar glückliche Tage bescheren. Ein Taxifahrer, der das Kind beim Überqueren der mehrspurigen Straße erfasste, machte alle Träume in einem einzigen Moment zunichte.

Termin für den Gerichtsprozess steht fest

Am 30. August steht der Fahrer des Unglücksautos in Paris vor Gericht. Obwohl sie schon den Gedanken daran nur schwer ertragen, wollen Kristina und Roman Plankevych bei der Verhandlung dabei sein. Die Familie wird sie begleiten. „Allein könnten sie das nicht durchstehen“, sagt Jana Emmrich. Trotzdem sei es für die Eltern wichtig, den Prozess mitzuerleben. Sie können einfach nicht glauben, dass der Taxifahrer das Kind nicht gesehen habe, dass die Warnsysteme des Mercedes versagten, in dem er unterwegs war. Sie wollen wissen, ob er absichtlich aufs Gas trat und dass er zur Verantwortung gezogen wird. Ein französischer Anwalt, der beim Pariser Gericht zugelassen ist, vertritt die Interessen der Eltern. „Er hat bereits angekündigt, dass er bei einem milden Urteil in Revision gehen wird“, erklärt Jana Emmrich. Die Kommunikation mit dem französischen Rechtsbeistand sei für sie alle als Nichtjuristen noch eine weitere Herausforderung, erklärt sie.

Gespräche mit Dr. Jana Emmrich (li.) helfen Kristina und Roman Plankevych.
Gespräche mit Dr. Jana Emmrich (li.) helfen Kristina und Roman Plankevych.© Jörg Gutzeit

Bei aller Verzweiflung rührt es Kristina und Roman Plankevych immer wieder, wie viel Hilfe ihnen in dieser unfassbar schweren Situation zuteil wird. Vom ukrainischen Konsulat und dem ukrainischen Botschafter in Paris bis hin zu den vielen Menschen, die sich den Aufruf des Vereins „Vest ohne Grenzen“ von Jana Emmrich zu Herzen genommen und gespendet haben. So ist es zumindest möglich, zum Beispiel Kosten für die Beerdigung oder für psychologische Unterstützung zu tragen, die Roman derzeit online über einen ukrainischen Experten und Kristina in Marl in Anspruch nehmen kann.

Anja (7) ist bei einem Verkehrsunfall in Paris ums Leben gekommen. Ihre Eltern haben uns das Foto zur Verfügung gestellt. In Marl hat die ukrainische Flüchtlingsfamilie vor über einem Jahr eine neue Heimat gefunden.
Anja (7) ist bei einem Verkehrsunfall in Paris ums Leben gekommen. Ihre Eltern haben uns das Foto zur Verfügung gestellt. In Marl hat die ukrainische Flüchtlingsfamilie vor über einem Jahr eine neue Heimat gefunden.© privat

Möglichst bald wollen sie nun aus ihrer Wohnung in Lenkerbeck ausziehen. Sie sollte ihre neues Zuhause werden, nachdem sie aus Mariupol geflüchtet waren und mit ihren beiden Kindern ein neues Leben beginnen konnten. Jetzt ist das Leben in diesen vier Wänden ohne Tochter Anja unerträglich geworden. „Wir suchen möglichst ein kleines Haus, in dem sie neu anfangen können“, sagt Jana Emmrich, die bereits einige Kontakte nutzt, damit der Umzug bald stattfinden kann. Ideal wären die Stadtteile Alt-Marl, Brassert, Drewer oder Hüls. Von dort aus käme Vater Roman gut zu seiner Arbeit nach Dorsten. Wer helfen möchte, kann sich an den Verein Vest ohne Grenzen wenden. Kontakt unter Tel. 0172 8012064 oder E-Mail an vestohnegrenzen@gmx.de

„Hier können wir nicht mehr bleiben“, sagt Kristina Plankevych leise und schaut auf eines der Fotos, die ihre Tochter zeigen. Anja ist inzwischen nach einer Trauerfeier in einer orthodoxen Kirche in Frankreich eingeäschert und in Marl beerdigt worden.

Zum Thema

Der Verein „Vest ohne Grenzen“ sammelt Spenden für Familie Plankevych unter dem Stichwort „Anja“ auf das Vereinskonto DE16 4265 0150 1000 8868 93 oder per Paypal: VestOhneGrenzen@gmx.de. Wer eine Spendenquittung benötigt, bekommt diese.

Dieser Artikel erschien bereits am 1. August.

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