Wer sich anschauen will, wie Bergkamen ohne den Bergbau aussehen würde, kann das gleich vor Ort: Er muss nur in Bergkamens kleinsten Stadtteil Heil fahren, sich das Kraftwerk wegdenken und hat eine recht gute Vorstellung davon, was aus Bergkamen ohne die Kohle geworden wäre: einige Bauerschaften im Nirgendwo zwischen den Kleinstädten Kamen, Lünen und Werne. Im Jahr 1890 hatte das Stadtgebiet des heutigen Bergkamen gerade einmal knapp 3400 Einwohner. In Oberaden lebten damals immerhin schon knapp über 100 Menschen, in Rünthe – der damals kleinsten Bauernschaft – waren es gerade einmal 267 Einwohner. Wie unbedeutend Bergkamen war, zeigt schon der Name: Es war einfach die Bauernschaft, die von Kamen gesehen auf einer Anhöhe lag – am flachen Übergang zum Münsterland ein „Berg“.

Die Zeche Grimberg 1/2 in ihrer Anfangszeit auf einer historischen Postkarte. Sie gab den ersten Anstoßs für die Entwicklung der bäuerlichen Gegen zu einer Industriestadt.
Wende im Jahr 1890
Daran hätte sich wahrscheinlich bis heute nicht viel geändert, wenn nicht im Jahr 1890 etwas Entscheidendes geschehen wäre. Die Gelsenkirchener Bergwerksgesellschaft, die bereits in Kamen das Bergwerk Monopol betrieb, begann im nördlichen Bereich von Bergkamen eine weitere Zeche abzuteufen. Dieser Bereich der Bauernschaft, eine wenig fruchtbare Wald- und Heidelandschaft, war damals praktisch unbesiedelt. Ab 1900 war die neue Schachtanlage Grimberg 1/2 voll betriebsbereit, und das schlug sich auch in den Bevölkerungszahlen nieder. Die Zechengesellschaft benötigte für das neue Bergwerk Arbeitskräfte – und dieser Bedarf ließ sich in der Umgebung schnell nicht mehr decken. Sie ließ Siedlungen bauen und sandte ihre Werber aus, um geeignete auswärtige Arbeitskräfte anzuwerben. Die Werber suchten vor allem im Waldenburger Revier in Schlesien nach Bergleuten. Dort gab es auch Steinkohle. Arbeiter waren in Schlesien aber schlecht bezahlt und lebten meist in elenden Verhältnissen. Sie ließen sich leicht mit dem Versprechen von höheren Löhnen im Ruhrbergbau und einem Haus mit Garten locken.

Die Siedlung Einhausen war eine der ersten, die in Bergkamen für die neu zugezogenen Bergarbeiter am Nordberg gebaut wurden. Ihre Kinder brauchten Schulen. Deshalb entstand unter anderem die alte Nordbergschule.
Schnell mehr Einwohner
Die Folge war, dass die Bevölkerung im heutigen Bergkamen-Mitte sprunghaft anstieg - von 688 im Jahr 1890 auf über 6000 im Jahr – fast eine Verneunfachung der Einwohnerzahl in nur 22 Jahren. Die Folge war auch, dass die einheimischen Westfalen nur noch eine Minderheit waren. „Damals stammten etwa zwei Drittel der Bergkamener aus Schlesien“, sagt Stadtarchivar Martin Litzinger. Es gibt auch heute noch nur wenige Bergkamener Familien, die keinen schlesischen Großvater oder keine schlesische Großmutter in der Familie haben. Die Bergwerksgesellschaft sorgte übrigens nicht nur für Arbeitsplätze und Wohnraum, sondern auch für alles andere. Sie baute sogar Kirchen – eine evangelische und eine katholische.

Die sogenannte D-Zug-Siedlung an der Schachtstraße in Rünthe ist Bergkamens älteste Zechensiedlung. Sie wurde 1899 bezogen. © Marcel Drawe
Siedlung an der Schachtstraße
Fast parallel entwickelte ich auch Rünthe von einer Bauernschaft zu einer Industriegemeinde. Ab etwa 1900 teufte die Georgsmarienhütte aus der Gegend von Osnabrück im benachbarten Werne eine Zeche ab. Die ersten Wohnungen wurden schon ab Mai 1899 an der heutigen Schachtstraße bezogen. Die sogenannte D-Zug-Siedlung – wegen der lang gestreckten Form der Häuser – ist die älteste Bergkamener Zechensiedlung. Dort siedelte die Georgsmarienhütte rund 40 Familien aus dem Osnabrücker Raum an, die den Aufbau der Zeche vorantrieben. Bald warb die Zeche Werne weitere Arbeitskräfte an und baute größtenteils südlich der Lippe, in Rünthe, die Siedlungen, um sie unterzubringen. Ab 1910 entstand die Siedlung Rünthe-Süd um die heutige Overberger Straße. Dort zogen Bergleute aus dem Mansfeld-Hettstedter Kupferrevier ein. Sie hatten an einem Streik teilgenommen, den das Militär niedergeschlagen hatte. Viele von ihnen standen ais Streikführer auf einer „Roten Liste“ und bekamen in ihrer Heimat im heutigen Sachsen-Anhalt keine Arbeit mehr.
In Bergkamen-Mitte kamen nach dem Ersten Weltkrieg die Bayern hinzu, die den bis heute bestehenden Bayern-Verein „Bavaria“ gründeten, und schon knapp vor dem Krieg Bergleute aus dem Bückeburger Raum – im heutigen Niedersachsen – die sich vor allem in der Siedlung Schönhausen ansiedelten.

Die Römerbergsiedlung in Oberaden entstand ab 1951/52. Zu dieser Zeit musste schnell Wohnraum geschaffen werden. Viele Flüchtlinge und Vertriebene fanden Arbeit auf der neuen Zeche Haus Aden. © Marcel Drawe
Schnell aufgebaut
In den heutigen Stadtteilen Oberaden und Weddinghofen begann das Wachstum mit Verzögerung, als auch dort Zechen abgeteuft wurden. In Oberaden wurde ab 1938 die Zeche Haus Aden abgeteuft, die erste nach dem Zeiten Weltkrieg richtig in Betrieb ging und sich als echter Motor für die ländliche Gemeinde erwies. Vor allem Kriegsflüchtlinge kamen zunächst, um im Bergbau zu arbeiten. Sie lebten in den ersten Jahren unter einfachen Bedingungen in sogenannten „Nissen-Hütten“ aus Wellblech.
Zuzug aus Niedersachsen
Schnell entstanden aber auch in Oberaden neue Wohnungen, wenn auch in Form des typischen Mietwohnungsbaus der 50er Jahre. Schon 1949/1950 wurde die erste neue Siedlung an der Alisostraße gebaut. Ab 1951/52 kam die riesige Römerbergsiedlung dazu. Nach den Flüchtlingen kamen in den 50er Jahren vor allem Menschen aus Niedersachsen nach Oberaden und nach Bergkamen-Mitte. Auch die Entwicklung von Oberaden vollzog sich rasant. Im Jahr 1938 lebten gerade einmal 1887 Menschen in der Gemeinde. Im Jahr 1960 waren es schon über 12.000.
Weddinghofen, der letzte der heutigen Bergkamener Stadtteile, der einen großen Zuzug innerhalb weniger Jahre erlebte, verzeichnete schnell eine wachsende Bevölkerung – nachdem die Zeche Grimberg 3/4, die nach dem Grubenunglück 1946 zunächst wiederaufgebaut werden musste, im Jahr 1952 die Förderung wieder aufnahm.

Die Zeche Haus Aden kurz nach ihrer Stilllegung. Seit dem Ende des Bergbaus wächst Bergkamen nicht mehr weiter.
Bergbau endet, Wachstum stockt
Die Zuwanderungsgeschichte von Bergkamen hörte auch später nicht auf: nach den Schlesiern, den Hettstedtern, den Bayern, den Bückeburgern und Niedersachsen kamen Italiener, Türken und Menschen aus anderen Ländern, vor allem um im Bergbau zu arbeiten. Als aus den sechs bisher eigenständigen Gemeinden in den 60er Jahren eine Stadt mit rund 44.000 Einwohnern wurde, gingen alle Prognosen davon aus, dass Bergkamen immer weiter wachsen würde auf wahrscheinlich über 70.000 Einwohner.
Einige Prognosen gingen sogar davon aus, dass die Stadt irgendwann zur Großstadt mit über 100.000 Einwohnern werden würde. Doch der Bergbau machte der Stadt auch in dieser Hinsicht einen Strich durch die Rechnung. Er kam in die Krise, die Bergwerke wurden stillgelegt, die Arbeitsplätze fielen weg – und die Einwohnerzahl sank sogar von über 53.000 auf rund 50.000 ab.
Geboren 1960 im Münsterland. Nach dem Raumplanungsstudium gleich in den Journalismus. Mag Laufen, Lesen, Fußball und den BVB ganz besonders. An den Bergkamenern liebt er ihre Offenheit. Die Stadt ist spannend, weil sie sich im Strukturwandel ganz neu erfinden muss und sich viel mehr ändert als in anderen Städten.
